Freitext: Lena Gorelik: Erinnerungen, die. Zuhause, das.

 
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20.04.2018
 
 
 
 
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Erinnerungen, die. Zuhause, das.
 
 
Als meine Familie nach Deutschland auswanderte, ließen wir alles zurück. Auch die Sprache. Lange blieb die Angst: Dass man mir ansieht, anhört, anriecht, dass ich anders bin.
VON LENA GORELIK

 
© Reinhard Krull/EyeEm / Getty Images
 
Zug, der: Schlafwaggons, die Liegen blau. Blaues Plastik, aus dem durch Risse und Löcher der Schaumstoff drängt. Ich habe noch nicht gelernt, mich zu ekeln, und später werde ich es auf eine pubertäre Weise tun: rebellisch und drastisch. Bei der Sauberkeit von Hotelbetten bin ich pingeliger als jeder, mit dem ich jemals verreiste.
 
Das wird später sein, da werde ich zu lang unter blau-karierter Bettwäsche in einem Asylantenheim hinter Stacheldraht mich mehr durch Nächte geängstigt denn geschlafen haben, und auf karierte Bettwäsche wird der Hass ebenfalls ein pubertärer, beinahe ein faschistischer sein. Der Zug jedenfalls: Schlafwaggons, die Liegen blau. Wir haben, wahrscheinlich, Karten gespielt. Wir haben, mit Sicherheit, aus dem Fenster gesehen. Das Grau schien mit jedem Kilometer zu weichen, als hätte jemand langsam die Glasscheiben poliert. Klarheit wie Freiheit, so ein Gefühl.
 
In Warschau war mir – der Eiserne Vorhang schien, wenn man in der Sowjetunion lebte, östlicher zu hängen –, als hätten wir den Westen betreten; ein buntes Schlaraffenland voller Menschen im Glück. Gegessen haben wir im Zug auch, und manchmal brachte der Schaffner einen Tee. Mein Vater hatte im Vorfeld die Taschen gepackt, die eigens für diese Auswanderung angefertigten, große, beigefarbene Taschen aus reißfestem Stoff, der Reißverschluss schwarz, ein verpacktes Leben oder eben, was nutzvoll erschien. Wertvoll wäre besser gewesen, aber das kann man erst im Nachhinein wissen, wenn man wo angekommen ist.
 
Die Angst, alles zu verlieren
 
Mein Vater faltete und legte zusammen und quetschte dazwischen: Bettwäsche, Geschirr, Bücher kaum, ich durfte zwei; ich nahm Astrid Lindgren mit und den Tolstoj drehten sie mir an, der Bildung wegen. Kleidung, nur wenige Fotos, ein Bügeleisen war auch dabei; Schulhefte, Seife, wir hatten gehört, dass die in Deutschland teuer sein sollte, sogar Küchenhandtücher, die meine Eltern bis heute benutzen; nützlich, ein bedeutendes Wort unter jenen, die um die Unsicherheiten des Lebens wissen.
 
Meine Großmutter stöhnte und küsste die Dinge, die an Familie und Freunde verschenkt wurden, mein Vater dauergereizt, nein, das können wir nicht mitnehmen, nein, das auch nicht, ich sage das nicht noch einmal. Neun Gepäckstücke, die mein Vater dauernd durchzählte, eins, zwei, drei, vier, fünf, wie zwanghaft, neun Gepäckstücke und ein zweites Leben, wir stiegen in den Nachtzug ein, den nach Berlin. Draußen vor den Fenstern war es dunkel, als der Zug Sankt Petersburg verließ. Das Verstehen ließ sich Zeit, es kroch gemächlich in mich hinein; den Erwachsenen schaute ich beim Weinen zu.
 
Berlin, der/die/das: Der Geruch von mit Käse überbackenem Laugengebäck und das wird für immer so bleiben. Wir stehen am Gleis. Mein Vater bewacht die Taschen. Diese andere Sprache, die ohne Sinn. Sauberkeit und ich weiß, ich darf nicht fragen, ob ich ein Stück von diesem Gebäck haben darf, dessen Namen ich noch nicht kenne und so riecht wie Berlin für mich immer riechen wird; das Geld ist ebenfalls ein anderes, und wir haben wenig davon. Mein Vater trägt einen Teil in einer Tasche an seinem Herzen, meine Mutter den anderen in ihrem BH und was nach einer Schmuggelgeschichte klingt, ist nur die blanke Angst: alles zu verlieren.

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