| | © Sean Gallup/Getty Images | Dieser Text ist Teil unserer Miniserie „Fußpflege in Marzahn“. Alle Folgen finden Sie hier. Noch immer geistert ein uraltes Vorurteil durch die Köpfe: In der Ostberliner Plattenbausiedlung Marzahn, heißt es, tummeln sich lauter ehemalige DDR-Bonzen und SED-Funktionäre. Das trifft nicht zu, wofür ich, allerspätestens seit ich als Fußpflegerin in Marzahn arbeite, meine Hand ins Feuer lege. Ich betreue die Füße von Maurern, Fleischern, Chemiefacharbeitern, Schneiderinnen, Verkäuferinnen, Krankenschwestern. Eine Elektronikfacharbeiterin ist dabei, eine Rinderzüchterin, eine Tankwartin. Fast alle meine Kunden sind Rentner, manche erst seit Kurzem, manche schon seit langer Zeit. Ein einziger waschechter Parteifunktionär sucht mich allerdings regelmäßig auf. Seit ich ihn kenne, hat das Vorurteil ein Gesicht: das von Herrn Pietsch. Er ist ein wandelndes Klischee. Pünktlich zum Termin steht Herr Pietsch vor der Tür unseres Studios, die karierte Schiebermütze auf der Glatze, und glotzt ernst durch die Scheibe. Es ist unter seiner Würde, irgendwo anzuklopfen oder zu klingeln; alle Türen haben sich von selbst zu öffnen, wenn Herr Pietsch auftaucht; so kennt er es, davon geht er aus, auch wenn es seit dreißig Jahren nicht mehr klappt. Ich lasse ihn ein, „Herr Pietsch, ich grüße Sie!“, doch mein Lächeln wird nicht erwidert. Verschwiegen legt Herr Pietsch die Jacke ab, wirkt, als sei er dienstlich hier und müsse irgendwas prüfen. Eine Kosmetikkundin, die wartend im Korbsessel sitzt, grüßt er im doppelten Sinn von oben herab, denn Herr Pietsch ist ein großer Mann. Mit seinem Beutelchen geht der Eins-neunzig-Rentner vor mir her in den Fußpflegeraum. Der jüngste Kreisparteisekretär der ganzen DDR „Was gibt’s Neues an der Front?“, frage ich. Herr Pietsch, der Schuhe und Socken auszieht, starrt aus dem Fenster. Ich kenne das inzwischen: Herr Pietsch fremdelt erst, später schießt er umso heftiger übers Ziel hinaus. Ich kauere mich hin, schiebe das Fußbad an den rechten Fleck und schaue von unten in sein Gesicht, aus dem die Augen zu stark hervortreten; zwei Halbkugeln wölben sich nach außen. Herr Pietsch trägt in thüringischem Sächsisch und wegen der dritten Zähne leicht vernuschelt vor: „Sicher, es gibt ein paar Dinge, mit denen ich nicht zufrieden bin, aber ich komme klar. Ich bewältige mein Leben.“ Eberhard Pietsch, geboren 1941, stammt aus einfachen Verhältnissen. Er besuchte die Arbeiter- und Bauernfakultät, wurde Lehrer für Geschichte und Mathematik. Er heiratete und bekam eine Tochter. Beruflich wechselte er schnell die Spur und startete seine Funktionärslaufbahn. Zuerst war er bei der FDJ-Bezirksleitung in Thüringen, bald beförderte man ihn auf einen Parteiposten. Einmal trompetete er mir stolz entgegen: „Ich war der jüngste Kreisparteisekretär der ganzen DDR!“ Dazu beglückwünschte ich ihn. Der Kreis, dessen Parteisekretär er in den Siebzigern gewesen war, grenzte an die Bundesrepublik Deutschland, und ich gewann den Eindruck, Herr Pietsch habe die fünfunddreißig Kilometer Staatsgrenze ganz allein bewacht. 1981 zog Herr Pietsch mit seiner Familie in die Hauptstadt, fuhr als SED-Kader zu Kongressen ins sozialistische Ausland und begleitete DDR-Delegationen zu Olympischen Spielen. Ich habe nie begriffen, worin genau seine Arbeit bestand.
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