10 nach 8: Stefanie Lohaus über Geschlechterrollen

 
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09.04.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Ein Schlag ins Kontor
 
Der Hashtag #IBeatMyAssaulter sammelt Schilderungen von Frauen, die sich handfest gegen männliche Angreifer gewehrt haben. Kann Gewalt ein richtiger Schritt sein?
VON STEFANIE LOHAUS

Ja, Frauen sollten sich wehren. Und: Nein, Gewalt führt immer zu mehr Gewalt. © Dylan Nolte/unsplash.com
 
Ja, Frauen sollten sich wehren. Und: Nein, Gewalt führt immer zu mehr Gewalt. © Dylan Nolte/unsplash.com
 

Neulich machte eine erstaunliche Meldung in meinem Facebook-Feed die Runde. Es ging um News aus der Steinzeit. Diese früheste Epoche der Menschheitsgeschichte wird besonders gern herangezogen, wenn es darum geht, gegenwärtige Geschlechterrollen zu erklären: Männer riskierten Jahrtausende lang ihr Leben auf Mammutjagd, während Frauen die Höhlen sauber hielten und Beeren sammelten. Deswegen geht der Mann heute jeden Morgen ins Büro, um die Steaks zu finanzieren, während die Frau lieber die Kinder erzieht. Doch seitdem es in der Archäologie immer feinere Methoden gibt, um menschliche DNA zu untersuchen und daraus Schlüsse auf die Konstitution und das Verhalten der Menschen zu ziehen, löst sich so manche vermeintliche Gewissheit in Wohlgefallen auf. Knochenfunde belegen, dass Männer und Frauen früher gleich groß und kräftig waren. Und in der Jungsteinzeit hatten Frauen rund 30 Prozent muskulösere Oberarme als Frauen heute, wie Forscher aus Cambridge herausgefunden haben. Muskulöser als die Oberarme der Mitglieder des heutigen Cambridge Ruderclubs. Eine gute Nachricht, korrigiert sie doch die Annahme vieler, dass Frauen Männern per se körperlich unterlegen seien und sich in letzter Konsequenz nicht wehren könnten.

Frauen haben heute vielfältige Körperformen. Eine Freundin von mir war lange eine sehr gute Turnerin und kann Männer beim Armdrücken in wenigen Sekunden vernichtend schlagen. Nur gilt das nicht als besonders schick: So einen muskulösen Körper will kaum eine Frau haben. Ein paar Muckis an den Armen sind okay, die gelten ja seit Michelle Obamas Etuikleid-Look als "definiert", aber bitte nicht mehr, das ist nicht schön. Begehrenswert zu sein, heißt immer noch, schwach zu sein.

Bloß möchten Frauen, auch wenn sie körperlich unterlegen sein sollten, nicht unbedingt überwältigt werden. Der Vergewaltigungsmythos "Wenn sie Nein sagt, meint sie eigentlich Ja" hält sich in manchen Köpfen zwar hartnäckig, findet glücklicherweise aber gesamtgesellschaftlich immer weniger Zustimmung. Ein bisschen Muskelkraft kann ganz nützlich sein, wenn es darum geht, bedrohliche Typen von sich zu weisen. Die ägyptische Feministin Mona Eltahawy startete gerade den Hashtag #IBeatMyAssaulter, nachdem sie einen Mann in einem Club in Montreal verprügelte, der sie, wie sie berichtet, begrapschen wollte. Eine Begebenheit, die offenbar weltweiten Nachrichtenwert hatte: "Ich griff ihn mir und dann schlug ich ihn zehn bis fünfzehnmal", erklärte sie dem Nachrichtensender CNN. Mona Eltahawy ruft unter diesem Hashtag Frauen und Mädchen dazu auf, Erlebnisse zu sammeln, bei denen Angreifer erfolgreich verjagt wurden. Eltahawy hat weder Kampfsport noch Selbstverteidigung gelernt, ihre Oberarme sind schmal. Sie beschreibt ihre Wut auf die patriarchalen Verhältnisse, in denen sie groß geworden ist, als ihren Motor.

Und ja: Irgendwie ist es ermächtigend zu lesen und zu hören, wie Frauen und Mädchen sich wehren, wenn sie angegriffen werden. Es ist also möglich, zurückzuschlagen, auch in der realen Welt und nicht nur in Revenge-Filmen wie Kill Bill und Serien wie Buffy, die Vampirjägerin, in denen übernatürliche Kräfte es auch einer zierlichen Person erlauben, ganze Armeen feindlicher Vampire kunstvoll zu verdreschen. Also Frauen: Rüstet auf. Macht Selbstverteidigungskurse, stählt eure Muskeln, bewaffnet euch. Oder?

Sicherlich ist es gut, sich wehren zu können. Es ist gut für das Selbstwertgefühl. Es kann tatsächlich eine Gewalttat verhindern oder zumindest abmildern. Sich wehren, das empfehlen auch Organisationen, die sich um von Gewalt Betroffene kümmern, wie der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

Sogar die konservative US-amerikanische National Rifle Association (NRA), die als Lobbyorganisation für die laxen Waffengesetze in den USA mitverantwortlich ist, hat inzwischen eine Frauenabteilung. Deren Sprecherin Dana Loesch erklärte im Nachhall des Amoklaufes an einer Highschool in Florida, Frauen sollten sich bewaffnen, um sich vor Vergewaltigungen zu schützen. Die Feministin Jessica Valenti reagierte, indem sie im Guardian erklärte, dass Frauen, die in Haushalten leben, in denen es Waffen gibt, dem großen Risiko ausgesetzt sind, dass diese Waffen gegen sie verwendet werden. Es ist also beides wahr: Ja, Frauen wehrt euch, wenn ihr in Gefahr seid. Und: Nein, sich zu wehren ist keine Lösung, es verlagert die Verantwortung für Gewalttaten von der Gesellschaft auf die einzelne Person. Es führt zu mehr, statt zu weniger Gewalt.

Sind Debatten über die Selbstverteidigung der Frau überflüssig?

Sind diese Debatten also überflüssig? Werfen wir einen Blick zurück. Eine andere Frau, deren Gegenwehr weltweit Schlagzeilen machte, ist Lorena Bobbitt. Am 23. Juni 1993 schnitt die damals 24-jährige US-Amerikanerin ihrem Mann John Wayne Bobbitt im Schlaf den Penis mit einem Küchenmesser ab, nachdem dieser sie ihrer Aussage nach zum wiederholten Male vergewaltigt hatte. Lorena Bobbitt fuhr mit dem abgeschnittenen Penis davon und warf ihn in ein Feld. Er wurde gefunden und in einer neunstündigen Operation wieder angenäht. Im folgenden Gerichtsprozess gegen Lorena Bobbitt beschuldigte diese ihren Ehemann des andauernden physischen, psychischen und emotionalen Missbrauchs – die Geschworenen folgten ihrer Argumentation und sprachen sie aufgrund einer psychischen Notsituation frei.

Die Bobbitts wurden zu Sinnbildern des Geschlechterkampfes, beide auf ihre Weise: "Eine hat es getan. Jetzt können es die anderen auch. Der Damm ist gebrochen, Gewalt ist für Frauen kein Tabu mehr," schrieb Alice Schwarzer 1994 in der Emma. John W. Bobbitts Genesung wiederum bedeutete für viele, dass die harte, echte Männlichkeit sich nicht unterkriegen lässt. Er prahlte, dass er mit seinem angenähten Geschlechtsteil kurze Zeit wieder sexuell aktiv war. Er spielte sogar in zwei Porno-Filmen mit den Titeln Uncut und Frankenpenis mit. "Sein Gesicht ziert Bierdosenkühler, und sie feiern ihn auf "The Beef Strikes Back"-T-Shirts als Prachtkerl", schrieb der Spiegel 1994 über das Phänomen Bobbitt. Gerade wurde bekannt gegeben, dass der Oscar-Preisträger Jordan Peele eine von Amazon produzierte Dokumentarserie über das Leben von Lorena Bobbitt drehen wird.

Worum es in der Dokumentation gehen wird, ist noch nicht klar, dafür etwas Anderes: Der unter anderem von Spiegel und Emma angekündigte Geschlechterkampf blieb aus. Die von sexualisierter und häuslicher Gewalt betroffenen Frauen fingen nicht an, zurückzuschlagen. Aber die anschließenden Diskussionen hatten Folgen für die patriarchalen Verhältnisse: In Deutschland wurde etwa 1997 Vergewaltigung in der Ehe als Delikt ins Strafgesetzbuch aufgenommen, weil sich das gesellschaftliche Klima gewandelt hatte.

Fälle wie die der Bobbitts oder Aktionen wie die von Mona Eltahawy lösen Debatten aus. Sie klären, wie wir uns als Gesellschaft verhalten wollen, welche Normen und Werten wir beibehalten und welche wir verändern wollen. Deswegen sind sie nicht überflüssig. Auch und gerade deshalb, weil sie ambivalent bleiben, das Geschlechterverhältnis verhandeln und keine eindeutige Lösung vorgeben.


Stefanie Lohaus ist Journalistin. Herausgeberin und Redakteurin des "Missy Magazine". Sie lebt in Berlin und ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".


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