Fünf vor 8:00: Wir Steuerdeppen - Die Morgenkolumne heute von Mark Schieritz

 
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FÜNF VOR 8:00
30.04.2018
 
 
 
   
 
Wir Steuerdeppen
 
Der deutsche Staat greift seinen Bürgern zu tief in die Taschen? Von wegen! Das eigentliche Problem ist, dass Geringverdiener überproportional belastet werden.
VON MARK SCHIERITZ
 
   
 
 
   
 
   
Einen Titel haben wir also schon geholt: Nach amtlichen Daten der Industrieländerorganisation OECD ist Deutschland Vizeweltmeister in der Disziplin fiskalischer Gier. Nirgendwo sonst in der industrialisierten Welt – mit Ausnahme von Belgien – sei die Steuerbelastung höher als in Deutschland. So haben es viele Zeitungen in der vergangenen Woche vermeldet, was Christian Lindner von der FDP als Steilvorlage diente, um den Umgang des Staates mit den Steuerzahlern als "maßlos" und "kleptomanisch" zu geißeln.
 
Nicht so schnell, Herr Lindner.
 
Zunächst einmal beziehen sich die Zahlen der OECD nicht auf die Deutschen insgesamt, sondern auf eine Untergruppe der Bevölkerung. Genauer gesagt: auf alleinstehende Durchschnittsverdiener. Sie werden mit Steuern und Sozialabgaben in Höhe von 39,9 Prozent des Bruttoeinkommens belastet. Addiert man dazu noch die Sozialbeiträge, die die Arbeitgeber entrichten müssen, ergibt sich sogar ein Wert von 49,7 Prozent.
 
Schon bei Alleinverdienern mit zwei Kindern sieht die Sache etwas anders aus. Sie müssen – inklusive Arbeitgeberbeiträge – in Deutschland 34,5 Prozent ihres Einkommens für Steuern und Sozialabgaben ausgeben. Das ist nur Rang neun. In Frankreich, in Italien, in Dänemark, aber auch in Schweden ist die Steuerbelastung höher.
 
Und auch das geht aus der OECD-Studie hervor: Ein verheiratetes Ehepaar mit Durchschnittsverdienst und zwei Kindern bezahlt genau 1,2 Prozent seines Einkommens an Einkommensteuer. Sie haben richtig gelesen: 1,2 Prozent. Wenn das Enteignung sein soll, dann möchte man doch gern enteignet werden.

Familien mit Kindern müssen also ihr Geld nicht an den Fiskus überweisen, sondern an die Krankenkasse, die Rentenkasse und die Arbeitslosenversicherung. Und deshalb lohnt es sich auch, an dieser Stelle etwas genauer hinzusehen. Denn eine amerikanische oder eine britische Familie zahlt zwar deutlich weniger Geld in die staatliche Rentenkasse ein, dafür bekommt sie aber auch deutlich weniger staatliche Rente.
 
Mit anderen Worten: Wer im Alter seinen Lebensstandard auch nur ansatzweise halten will, der muss in diesen Ländern privat Geld zurücklegen. Dieses Geld fehlt dann im Alltag genauso, wie wenn es einer öffentlichen Rentenkasse überlassen worden wäre. Mehr noch: Wenn der Staat sich um die Rente kümmert, dann besteht wenigstens nicht die Gefahr, dass die Ersparnisse bei einem Börsencrash ausgelöscht werden. Die niedrige Belastung der Arbeitnehmer mit Sozialabgaben sieht also auf dem Papier gut aus, ist in der Praxis aber nicht unbedingt von Vorteil.
 
Hinzu kommt: Die OECD berücksichtigt nicht alle Leistungen, die die Steuerzahler ihrerseits vom Staat erhalten. Das Kindergeld ist in den Rechnungen enthalten, Wohngeld oder Kinderzuschläge hingegen nicht. Auch das schränkt die internationale Vergleichbarkeit der Daten erheblich ein.
 
Also alles in Ordnung? Nein. Dem deutschen Steuer- und Abgabensystem stünde die eine oder andere Reform gut an. Grob gesagt bezahlen die Gutverdiener zu wenig und die Geringverdiener zu viele Steuern. Das hat damit zu tun, dass indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer Geringverdiener – die einen großen Teil ihres Einkommens für den Konsum ausgeben – überproportional belasten. Es hat damit zu tun, dass Vermögen und Erbschaften in Deutschland weniger stark besteuert werden als in vielen anderen Ländern. Und es hat damit zu tun, dass sich für viele Geringverdiener der soziale Aufstieg nicht lohnt, weil ihnen mit steigendem Einkommen Transferleistungen entzogen werden, was schlimmstenfalls dazu führt, dass mehr Brutto zu weniger Netto führt.
 
Darüber lohnt es sich zu streiten, nicht über eine Statistik mit begrenzter Aussagekraft.
   
 
   
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