Ein "kauziges Relikt des britischen Imperialismus" hat einer, der es wissen muss, das Commonwealth genannt: den lockeren Staatenbund von 53 Ländern, der aus dem Empire hervorgegangen ist. Bis auf Mosambik und Ruanda sind es lauter ehemalige Dominions und Kolonien Großbritanniens. Alle zwei Jahre kommen ihre Staatschefs zu einem acht Tage langen Gipfeltreffen zusammen. Vorige Woche war es wieder so weit, diesmal in London. Sonst eher eine nostalgische postkoloniale Familienfeier, wurde der Commonwealth-Gipfel ein Jahr vor Großbritanniens EU-Austritt von den Brexiters, allen voran Außenminister Boris Johnson, zum Eintrittstor in die goldene Zukunft von "Global Britain" hochgejubelt. Der Mann, der das Bild vom "kauzigen Relikt des Imperialismus" prägte, ist Professor Phil Murphy, Direktor des Instituts für Commonwealth-Studien. "Was tut eigentlich das Commonwealth?", wurde er einmal in einer Radio-Talkshow gefragt. Die Frage brachte ihn etwas aus der Fassung. "Es tut eigentlich nicht sehr viel", sagte er schließlich, "aber es kostet auch nicht viel." Jetzt ist er in seinem Buch Mythos Commonwealth einen Schritt weiter gegangen: "Es ist wie eine Standuhr vom Großvater, die seit Jahrzehnten im Besitz der Familie ist. Sie zeigt schon lange nicht mehr die richtige Zeit, aber keiner traut sich, das Erbstück in den Müll zu werfen." Nun aber soll sie mit ihrem antiquierten Aufziehwerk die digitale europäische Funkuhr ersetzen. Mehr Handel mit Italien als mit Indien Außenminister Johnson wird nicht müde, die Zahlen wiederzukäuen. Das Commonwealth umfasst ein Viertel der Staaten dieser Welt, fast ein Viertel ihrer Landmasse und rund ein Viertel ihrer Bevölkerung, 2,4 Milliarden Menschen. Es erwirtschaftet ein Sozialprodukt von 10,5 Billionen US-Dollar (EU: 17 Billionen US-Dollar), das sind 14 Prozent der Weltwirtschaftsleistung (EU: 22 Prozent). Besonders unterstreicht Johnson die Tatsache, dass in den zurückliegenden 40 Jahren die Wirtschaft der Mitglieder jährlich um 4,4 Prozent gewachsen sei, die der EU nur um 2,2 Prozent. Daher liege Großbritanniens Zukunft im vertieften Handel mit dem Commonwealth. "Der Brexit macht uns frei, ein wahrhaftig globales Britannien zu schaffen", sagte Johnson. In Handelsverträgen mit "unseren Freunden aus dem Commonwealth" sieht er den Rettungsanker. Der Blick in die goldene Zukunft der Ungebundenheit trübt freilich die Netzhaut. Etwa 42 Prozent der britischen Exporte gehen in die Europäische Union, aber nur 9 Prozent ins Commonwealth. Umgekehrt kommt die Hälfte der britischen Importe aus der EU, nur 8 Prozent aus dem Commonwealth. Unter den zehn größten Handelspartnern Englands ist nicht ein einziger Commonwealth-Staat. Deren Anteil am Gesamtexport ist eher kärglich: Australien 1,6 Prozent, Kanada 1,5 Prozent, Singapur 1,3 Prozent, Indien 1,0 Prozent, Südafrika 0,8 Prozent. Der englische Handel mit Italien übersteigt den mit Indien, selbst die Schweiz kauft den Briten dreimal so viel ab wie Australien. Neuseelands Wirtschaft ist kleiner als die griechische. Global Great Britain – oder Great Global Britain? – strebt über sein unmittelbares europäisches Hinterland hinaus. Die aus der Vergangenheit stammende "natural affinity" setzt Johnson der geografischen Nähe des EU-Festlandes entgegen. Letztere bleibt jedoch schon wegen der Transport- und Verwaltungskosten ein bestimmender Faktor. Und die Commonwealth-Staaten verfolgen längst ihre eigenen Interessen. Der Brexit gehört nicht dazu, die meisten sahen das Vereinigte Königreich als Durchgangsstation zur EU. Viele haben hohe Zollmauern. Kanada, Australien und Neuseeland verlangen für ihre Agrarerzeugnisse unbeschränkten Zugang zum britischen Markt, überdies auch Indien (das außerdem Visums- und Immigrationsfreiheit fordert). Die Öffnung dieses Marktes wäre das Ende für die von der EU reichlich subventionierte Landwirtschaft Englands. Nostalgie ist keine Zukunftsstrategie "Wir lebten in einem Narrenparadies, wenn wir glaubten, das Commonwealth warte nur darauf, dass wir das Empire 2.0 entdecken", schreibt der frühere Wirtschaftsminister Peter Mandelson in der Financial Times. Tatsächlich verfügt der lockere Staatenverbund über keinerlei wirksame Struktur, um das Verhalten der Mitglieder zu beeinflussen. Sie sind "more different than alike", sagt Mandelson. In der Tat: Neben Demokratien gibt es darin Autokratien, neben Indien mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern Inselchen wie Tuvalu (11.500 Einwohner). Zum Commonwealth gehören die Commonwealth Realms, die Elizabeth II. als ihre Königin anerkennen, aber auch eine Mehrheit, die sie nur als head, als Oberhaupt des Commonwealth, akzeptiert. Sie veranstalten Ministertreffen, Konferenzen und Foren zuhauf und alle vier Jahre die Commonwealth Games, das drittgrößte Sportereignis der Welt – doch die geopolitische Relevanz des postkolonialen Staatenclubs ist gleich null. Auf dem Feld des Handels waren die Mitglieder ohnehin nie sehr rührig: Die Handelsminister trafen sich 2017 überhaupt zum ersten Mal. Nostalgie ist keine Zukunftsstrategie. Auf der britischen Insel folgt der Selbstverstümmelung durch den Brexit ein Selbstbetrug nach dem anderen. Die illusorische Vorstellung, die gravierenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Austritts aus der Europäischen Union ließen sich durch das "kauzige Relikt" des britischen Empire auffangen, abmildern und wettmachen, wird nicht der letzte gewesen sein. Doch der Traum vom Empire 2.0 kann nie ein Ersatz für die Realität EU werden, so krisengeschüttelt die Gemeinschaft derzeit auch sein mag. |
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