| | © Tim Kubach/plainpicture | Ich habe mir vorgenommen, mehr Bücher zu lesen. Um meine Motivation hochzuhalten, trage ich jedes gelesene Buch nummeriert in ein Notizheft ein. Der Einband des Notizheftes ist mit kleinen Eiffeltürmen gemustert. Bücher müssen bis zum Ende gelesen sein, sonst darf man sie nicht auflisten. Seit Anfang des Jahres entstand eine Regelmäßigkeit von einem Buch pro Woche. Ich habe ein schlechtes Gewissen, denn in der Jugendzeit schaffte ich leicht einen Wälzer pro Nacht. Ich war lesesüchtig und brauchte keine Notizhefte, um möglichst schnell nach einem weiteren Buch zu greifen. Ich las überall und immer, vor allem samstags, wenn bei uns zu Hause aufgeräumt werden musste. Meine Mutter saugte demonstrativ in meinem Zimmer, während ich mich demonstrativ anzog und in die Bibliothek lief. Sie war zornig und hasste meine Bücher. Ich hasste Samstage. Ein schlechtes Gewissen bekommt man auch dann, wenn man sehr viel liest. Egal also, was man tut, man ist immer schuld. Das Notizheft mit den Eiffeltürmen sieht hässlich aus, und ich überlege, mir ein neues, einfach nur grünes oder schwarzes, nein, lieber ein grünes, anzulegen. Ich stelle mir genüsslich vor, wie ich die Liste in kunstvoller Schönschrift in das neue Notizheft übertrage. Als wären die gelesenen Bücher meine wiedergefundenen Schätze. Doch nicht das schlechte Gewissen spornte mich neulich wieder zum Lesen an, sondern mein Frauenarzt. Immer wenn er mich im Wartezimmer abholt, fragt er anstatt einer Begrüßung sehr laut: „Was lesen Sie gerade, Frau Maljartschuk?“ Und ich werde rot. Hätte er gefragt, ob sich meine zwei Endometriosezysten weiterhin so schmerzhaft verhalten, wäre ich dankbar. Hätte er sich erkundigt, ob mein Zyklus regelmäßig ablaufe, ob meine Basaltemperatur nach dem Eisprung aufsteige oder sonst nach etwas, wonach man im Bereich Frauengesundheit so fragt, wäre ich weniger verlegen. „Lesen Sie also nichts, Frau Maljartschuk?“ Er gibt nicht auf und schaut ernst. „Doch, doch“, stottere ich und versuche, mich von den ringsherum platzierten Vagina- und Gebärmutterabbildungen abzuwenden. Gebärmutterabbildungen rascheln ringsherum In dieser Klinik für frauenspezifische Medizin ist alles sehr weiß, zärtlich, zierlich, weiblich. Ich stelle fest, dass die Gebärmutter mit zwei von den Eileitern elegant herunterhängenden Eierstöcken einem Widderschädel extrem ähnelt. Die Eierstöcke sind mein Geweih.
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