Überwachte Tänzer Das Land, die Stadt, die Schule, in der ich aufwuchs, gehorchten dem Diktat der Baath-Partei. Widerstand im Syrien meiner Jugend war nahezu unmöglich. VON ROSA YASSIN HASSAN |
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| | Früher war es Hafiz al-Assad, der Syriens Kinder für die Partei instrumentalisierte. Danach, wie hier auf einem Bild von 2014 aus Aleppo, führte sein Sohn Baschar al-Assad das Prinzip fort. © Joseph Eid/AFP/Getty Images |
Vor Kurzem bin ich auf eine seltsame Fotografie gestoßen, die sich zwischen meinen persönlichen Erinnerungsfotos versteckt hatte: Das Bild stammt aus meiner Schulzeit und zeigt mich inmitten meiner Klasse, wie wir mit einem fast schon befremdlichem Enthusiasmus im Kreis Dabke tanzen. Über uns prangt ein großes weißes Transparent, auf dem mit roter Schrift geschrieben steht: "Jahrestag der ruhmreichen Korrekturbewegung unter Führung unseres Kampfgenossen Hafiz al-Assad".
Jetzt frage ich mich: Was hat mich damals bloß geritten, mich zum Gedenken an die "Korrekturbewegung", (die vielmehr der Putsch war, der Hafiz Al-Assad 1970 zum Präsidenten machte), in jenen Kreis einzureihen? Ich kann es mir einfach nicht mehr erklären. Kurz vor dem Zeitpunkt, zu dem das Foto entstanden war, hatte ich mir von unserem Lehrer für "Nationale Erziehung" eine saftige Strafe eingehandelt, weil ich ihm – wenn auch ein wenig schüchtern – erklärt hatte, dass ich nicht in die Baath-Partei eintreten wolle.
Der Lehrer für das Fach "Nationale Erziehung" war in Wirklichkeit die rechte Hand der Staatssicherheit an der Schule. Er leitete die dortige Parteigruppe und hatte in der Bezirkssektion der Partei eine führende Position inne. Während er mit dem Antragsformular für die Parteimitgliedschaft herumfuchtelte, fixierten seine stahlharten Augen mein Gesicht: "Was hast du gesagt? Wiederhole das!" Auf einen Schlag blieben mir Stimme und Kraft weg, sodass ich meine Antwort nur noch flüstern konnte: "Ich will nicht in die Baath-Partei eintreten."
"Und warum nicht? Deine Klassenkameraden haben doch auch unterschrieben!", blaffte er mich an und hielt dabei ein paar Dutzend Anträge hoch, die meine Mitschülerinnen auf sein Drängen hin unterschrieben und die ihre Vormitgliedschaft in der alles beherrschenden Baath-Partei besiegelt hatten.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. In Gedanken hörte ich die Stimme meines Vaters: "Unterschreib auf gar keinen Fall! Egal, was er tut und wie sehr er dir auch droht oder Angst macht ... Unterschreib nicht!" "Ich interessiere mich nicht für Politik", antwortete ich also. "Das wird auch gar nicht von dir erwartet. Du musst nicht politisch aktiv werden. Das ist einfach nur ein Aufnahmeantrag." "Ich bitte Sie, Herr Lehrer, verstehen Sie mich nicht falsch ..." "Bist du etwa in irgendeiner anderen Partei?" "Nein, Gott bewahre!" "Denkst du darüber nach, in eine andere Partei einzutreten?" "Nein, bei Gott, niemals!"
Ich hörte mein Herz pochen, während der Lehrer brüllte, ich würde das noch bereuen. Kaum war er zur Tür hinausgestürmt, fiel mir das beklommene Schweigen im Klassenzimmer auf. Natürlich hatten alle meine Mitschüler unserem Dialog gelauscht. Mehr als 35 Augenpaare waren auf mich gerichtet: schockierte Blicke, sympathisierende Blicke, hasserfüllte Blicke. Eine Mitschülerin mit Bewunderung in den Augen meinte zu mir: "Bravo! Aber ich fürchte, der wird die Sache nicht einfach so auf sich beruhen lassen!" Eine andere kam zu mir und flüsterte aufgeregt auf mich ein, während ihr langer Zopf hin- und her wirbelte: "Bist du blöd! Was soll das Ganze? Unterschreib doch den Antrag und geh einfach nicht zu den Parteiversammlungen! Du brauchst keinen Finger krumm zu machen! Im Gegenteil, du machst es dir damit leichter. Dann kriegst du bessere Noten im Abitur. Die wollen eben, dass wir alle in der Partei sind. Okay, dann geben wir ihnen halt, was sie wollen. Und wir nehmen uns dafür das, was wir wollen. Du bist echt bescheuert!"
Danach mussten wir gleich zur nächsten Unterrichtsstunde hasten. Jetzt war "Militärische Erziehung" an der Reihe. Die Lehrerin Fräulein Salwa erwartete uns wie gewohnt mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. Die Winterluft dampfte in warmen Wolken aus unseren Mündern, während wir auf dem Vorplatz der Schule Aufstellung nahmen und gegen die Kälte antänzelten.
Wir mussten jedes Mal unsere Mäntel ablegen und durften die ganze Unterrichtszeit über nur Militäruniformen tragen. Fräulein Salwa hatte mal wieder einen ihrer Tobsuchtanfälle, nachdem ihr Blick auf das offene, in langen, glänzenden Strähnen herabwallende Haar einer Schülerin gefallen war. Sie stürzte sich auf sie, zog sie an den Haaren und schrie: "Das riecht man ja bis ganz nach vorne, das ganze Kosmetikzeug ... Bildest dir wohl ein, du bist hier auf einer Hochzeit, Schlampe!" Dann zerrte sie die Schülerin an ihren Haaren quer über den Platz zu den Wasserhähnen. Sie zwängte ihren Kopf unter einen der Hähne und ließ eiskaltes Wasser auf sie niederprasseln. Die Schülerin wagte nicht zu schreien. Als ihr Haar klatschnass war, schubste die Lehrerin sie gegen die Mauer und schrie: "Hier bleibst du jetzt bis zum Ende des Unterrichts stehen!"
Das Land war nicht unseres
Während die unglückselige Schülerin fortwährend schlotterte und ihre Lippen blau anliefen, schritt Fräulein Salwa zwischen unseren Reihen auf und ab, die wie bei einer in die Schlacht ziehenden Armee angeordnet waren. Nicht nur unsere Aufstellung hatte soldatisch zu wirken, auch unser Äußeres. Sobald eine von uns auch nur einen Hauch von Weiblichkeit zu erkennen gab, war das schon Anlass genug, um uns zu bestrafen: Da brauchte nur ein Fingernagel ein klein bisschen zu lang zu sein, schon packte die Lehrerin die Schülerin an der Hand und scheuerte deren Fingerkuppe so lange an der Mauer, bis das Blut floss. Flogen farbige Strümpfe unter der langen Militärhose auf, musste man den ganzen Platz viermal auf Ellbogen und Knien kriechend durchqueren.
Aber erst an dem Tag, als Fräulein Salwa mit uns zum Schießtraining ging, kam das Monster, das in ihr steckte, so richtig zum Vorschein. An jenem Frühlingsmorgen luden sie uns auf einen Militärtransporter mit offener Ladefläche, der sich gut zur Beförderung von Schafen wie uns eignete. Sie fuhren uns in eine öde Gegend, in der es nichts gab außer ein paar Zielscheiben. Schweigend mussten wir Mädchen, keins von uns älter als 16 Jahre, eine Vorführung über uns ergehen lassen, wie man eine Kalaschnikow auseinander- und wieder zusammenbaut und sie repariert. Eine bleierne Stille lag über allem. Mir war, als könne ich mein Herz und das Dutzender anderer durch die Uniform hindurch pochen hören.
Als der Moment des Schießens gekommen war, begann eine Klassenkameradin laut zu weinen, und ehe ich mich versah, stimmte ich mit ein. Eine andere Mitschülerin flehte den Ausbilder an, er möge doch ein Einsehen mit ihr haben und ihr diese Tortur ersparen. Vor uns hatte sich schon eine Schülerin flach auf den Boden gelegt und machte sich daran, mit der Kalaschnikow die Zielscheibe ins Visier zu nehmen. Dann wurde sie plötzlich ohnmächtig. Die Schülerin neben ihr fing an zu stöhnen, und ich dachte schon, eine verirrte Kugel habe sie getroffen. Genau in jenem Moment ging Fräulein Salwa zur Attacke auf die ohnmächtige Schülerin über. Sie schlug ihr so kräftig ins Gesicht, dass das Klatschen in einem weiten Umkreis zu hören war. Dann schüttelte sie die Ohnmächtige wie von Sinnen und schrie sie an, sie solle gefälligst aufwachen. Als die Schülerin die Augen einen Spalt weit öffnete und mühsam zu begreifen versuchte, was da vor sich ging, schlug Fräulein Salwa noch härter zu. In jenem Schießtraining kristallisierte sich das ganze Drama unseres Teenagerinnen-Schulalltags.
Wir hatten keinerlei Unrechtsbewusstsein
All das trug nicht dazu bei, dass wir unsere Schulen als etwas betrachteten, das der Allgemeinheit gehörte. Wir ritzten mit jedem nur erdenklichen spitzen Gegenstand in das Holz der Stühle: unsere Namen, Herzchen, gelegentlich auch Obszönitäten und erotische Kritzeleien, wie sie auf den Wänden und Türen der Schultoiletten zu finden waren. Wir hatten dabei nie das Gefühl, etwas Falsches zu tun. Selbst wenn wir morgens in die Klasse kamen und sahen, wie einige Stühle zertrümmert waren und wüste Kritzeleien und Kraftausdrücke Wände und Tafeln "zierten", lachten wir insgeheim darüber. Wir hatten keinerlei Unrechtsbewusstsein. Es waren ja nicht unsere Stühle, und es war auch nicht unsere Schule.
Genau so wenig, wie uns die Straßen gehörten, die wir also auch ohne Bedenken zumüllen konnten. Genauso wie die öffentlichen Einrichtungen, die Gehwege, die Parks, ja sogar die Bäume – das alles gehörte nicht uns. Wir hatten das unbewusste, aber gleichzeitig tiefsitzende Gefühl, dass uns unsere Stadt nicht gehörte, dass nichts in ihr unser gemeinsames Eigentum war. Dass wir lediglich Gäste waren in einem Land, das sich im Privatbesitz des "Vaters und Führers" und seiner Partei befand.
Wenn das alles so war, frage ich mich jetzt, warum habe ich trotzdem mit meinen Klassenkameraden zum Gedenken an die "ruhmreiche Korrekturbewegung" Dabke getanzt? Bis heute habe ich keine zufriedenstellende Antwort gefunden. War es der Herdentrieb? Oder die Angst? Schließlich musste sich jeder, der nicht an der Zeremonie teilnahm, auf Fragen gefasst machen, schließlich registrierten die Augen des Lehrers für "Nationale Erziehung" jedes Gesicht und jede Bewegung der Anwesenden. Und auch die Polaroid-Kamera des Fotografen hielt alles fest – wobei es überhaupt fragwürdig war, wieso man für eine ganz normale Schulfeier einen Fotografen anheuerte ...
Als ich am Abend mit dem Foto nach Hause kam, betrachtete mein Vater es mit gerunzelter Stirn und seufzte dann: "Und weshalb dieser ganze Enthusiasmus, nur weil ihr zum Gedenken an die "Korrekturbewegung" Dabke tanzt? Wie Affen seht ihr aus ..." Diesen Satz werde ich nie in meinem Leben vergessen. Er wird mich immer daran gemahnen, mich nie wieder zum Affen zu machen. Schon gar nicht zu einem, der im Rudel tanzt, um einer "ruhmreichen Korrekturbewegung" zu gedenken.
Aus dem Arabischen übersetzt von Rafael Sanchez Rosa Yassin Hassan wurde in Damaskus, Syrien, geboren und lebt seit 2012 mit ihrem Sohn in Deutschland. Sie arbeitete als Architektin und widmet sich seit 2007 ausschließlich dem Schreiben. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, zuletzt "Die vom Zauber berührten" (2016). "Wächter der Lüfte" wurde 2011 ins Deutsche übersetzt. Sie hat 2006 die syrische Vereinigung "Frauen für Demokratie" begründet. Rosa Yassin Hassan ist Gastautorin von "10 nach 8".
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