Fünf vor 8:00: So geht es nicht - Die Morgenkolumne heute von Theo Sommer

 
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FÜNF VOR 8:00
13.02.2018
 
 
 
   
 
So geht es nicht
 
463.732 Mitglieder der SPD dürfen über die große Koalition abstimmen. Zwei Faktoren dieses Verfahrens könnten eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts rechtfertigen.
VON THEO SOMMER
 
   
 
 
   
 
   
Die Uhr tickt für das Mitgliedervotum der SPD, in dem die Partei über ihren Eintritt in die große Koalition entscheiden lässt. Bis zum 2. März dürfen die 463.732 Mitglieder abstimmen, am 4. März soll das Ergebnis bekannt gegeben werden.
 
Dieser bevorstehende Mitgliederentscheid war für die SPD-Unterhändler und -Unterhändlerinnen ein hervorragendes Folterinstrument, um der Union inhaltliche Zugeständnisse und wichtige Ministerposten abzuringen, wozu sie sonst nie bereit gewesen wäre. Aber damit wurde zugleich die Axt an das Grundprinzip unserer repräsentativen Demokratie gelegt – dass nämlich die vom ganzen Volk gewählten Abgeordneten über die Regierungsbildung entscheiden, nicht bloß 0,7 Prozent aller Wahlberechtigten.
 
"Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages", heißt es in Artikel 38 des Grundgesetzes, "sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Daraus folgt, dass es ihnen freisteht, Mitgliedervoten zu missachten, die sie in Gewissensnot bringen könnten; sie sind ihnen nicht unterworfen. Selbst die Beschlüsse von Parteitagen entfalten den Abgeordneten gegenüber keine Bindungswirkung, pointiert der Standardkommentar von Jarass/Pieroth.
 
Gewiss, die Parteien wirken nach Artikel 21 des Grundgesetzes bei der politischen Willensbildung des Volkes mit, und die Karlsruher Verfassungsrichter haben 2013 entschieden, wie sie die parlamentarische Willensbildung innerparteilich vorbereiteten, obliege ihrer autonomen Gestaltung. Das letzte Wort hat jedoch nicht die Parteibasis, sondern immer der oder die einzelne Abgeordnete. Deren freies Mandat darf nicht durch Ortsvereine verletzt und in ein imperatives Mandat verwandelt werden. Die 436.000 SPD-Mitglieder können nicht für die 9,5 Millionen Stimmbürger und -bürgerinnen sprechen, die am 24. September SPD gewählt haben.

Die plebiszitäre Demokratie – der Gegensatz zur repräsentativen Demokratie – wirft nicht nur theoretische, sondern auch praktische Probleme auf. Das Zustimmungsquorum ist nur eines: zwanzig Prozent der Wahlberechtigten sind den einen zu viel, den anderen zu wenig. Die SPD hat 2011 einen Vorstoß unternommen, wonach auf dem Weg der Volksgesetzgebung ein Gesetz angenommen ist, wenn ein Fünftel der Stimmberechtigten sich an der Abstimmung beteiligt und die Mehrheit der Abstimmenden zustimmt. Das heißt: Ein Zehntel der Wahlberechtigten plus eine Stimme könnte gegebenenfalls ein Gesetz verabschieden. Eine Minderheit zwingt da der Mehrheit ihren Willen auf. So war unsere Demokratie aber nicht gemeint. Volksentscheide bergen im Übrigen stets die Gefahr, dass sie von finanzkräftigen Lobbygruppen alimentiert und munitioniert oder von inkompatiblen Mehrheiten getragen werden, extremen Rechten und extremen Linken etwa, die gemeinsam nur gegen etwas sein können, jedoch unfähig sind, gemeinsam für etwas zu sein.
 
Bürgerbeteiligung macht Sinn, wo es um Schulen, Krankenhäuser, Stadtplanung und regionale Infrastruktur geht, um Sachentscheidungen auf lokaler Ebene also. Ich halte auch Volksbegehren für sinnvoll, die den Bundestag und die Landtage zwingen, ein Thema ein weiteres Mal aufzugreifen, die abschließende Entscheidung aber den Parlamenten überlassen. Entscheiden sie falsch, können die Bürger sie bei den nächsten Wahlen in die Wüste schicken. Das Volk jedoch, trifft es eine falsche Entscheidung mit fatalen Folgen, lässt sich nicht so einfach auswechseln. Einen Politiker, eine Partei, eine Regierung kann man stürzen, das Volk nicht, weil es nicht zu fassen ist.
 
An dem Mitgliederentscheid der SPD über die große Koalition stören mich, abgesehen von solch allgemeinen Erwägungen, zwei Faktoren, die eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts rechtfertigen könnten. Erstens dürfen sich auch Vierzehn- bis Achtzehnjährige beteiligen, die zu jung sind, um überhaupt schon das Wahlrecht zu haben. Zweitens können auch Ausländer und Ausländerinnen ihre Stimme abgeben, für die das Gleiche gilt. Wo bleibt da der Verfassungsverstand? Die Jungen und die Ausländer können gern über parteiinterne Fragen mitentscheiden, zum Beispiel darüber, ob die zerstrittene SPD noch Wenn wir schreiten Seit' an Seit' singen will, oder welche Grundfarbe die nächsten Wahlplakate haben sollen. Bei staatspolitischen Entscheidungen, die dem rechtmäßigen Wähler zustehen, haben sie nicht mitzureden.
 
Und überhaupt sollte sich der neue Bundestag einmal mit der Frage beschäftigen, wie weit wir unsere repräsentative Demokratie wirklich plebiszitär auflockern wollen. Dabei sollte er sich von dem Satz leiten lassen, den der Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel 1958 niederschrieb und den ich in einem alten Aufsatz von Heinrich August Winkler wiederentdeckt habe: "Ein Volk, das seinem Parlament nicht die Fähigkeit zur Repräsentation zutraut, leidet an einem demokratischen Minderwertigkeitskomplex."
   
 
   
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