10 nach 8: Annett Gröschner über die Sowjetmoderne

 
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23.02.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Die Architektur eines fragmentierten Imperiums
 
In der sowjetischen Stadtplanung sollte sich einst die kommunistische Utopie spiegeln. Das gut erhaltene Minsk wirkt noch heute wie eine Enzyklopädie der Sowjetmoderne.
VON ANNETT GRÖSCHNER

Sue Lyon 1962 in Stanley Kubricks "Lolita"-Verfilmung: Die Sexualität junger Mädchen wird seit jeher meist durch die männliche Brille gespiegelt. © Silver Screen Collection/Getty Images
 
Das Panoramio in Minsk ist ein Beispiel für sowjetischen Modernismus. © Svetlov Artem/Wikimedia Commons
 
 

Ich stehe im Zentralnij Universam in der Erdgeschosszone eines Stalinbaus auf der Hauptmagistrale gleich neben dem Oktober-Platz und schaue auf das abendliche Alltagstreiben einer Millionenstadt. Es ist Valentinstag in Minsk. Rote Luftballonherzen werden von jungen Frauen durch die Unabhängigkeitsstraße getragen, ein Werbegeschenk von McDonald's, das eine Filiale schräg gegenüber betreibt. Unter der flutlichtartigen Beleuchtung tänzeln die Herzen über den Schnee.

Als ich vor acht Jahren schon einmal in einem Februar hier war, hatten alle Männer die gleichen langstieligen Rosen in Weiß oder Rot in der Hand, am Straßenrand auf den Bus oder die Frau wartend. Das Angebot der Blumenläden ist inzwischen vielfältiger, aber der Valentinstag scheint langsam wieder aus der Mode zu kommen. Im Zentralnij Universam kostet an den Buffets im Erdgeschoss alles so viel wie im Supermarkt eine Etage darüber. Es ist ein Treffpunkt junger Leute und Älterer, die mittlere, saturiertere Generation fehlt. Nebenan kippt sich ein junger Mann abwechselnd Wodka und Cola in den Rachen, altbekannte Rituale des Vorglühens, wenn man schnell lustig werden will und das Geld für teure Getränke im Club nicht reicht. Nach und nach lässt der Atem der Kunden die Schaufensterscheiben beschlagen und nur das beleuchtete Wandmosaik der Metrostation auf der anderen Straßenseite ist noch zu erkennen, drei Kosmonauten im All. 

Ein lange gesuchtes Dokument

In meiner Kindheit, die mich täglich über eine der ostdeutschen Stalinalleen führte, die damals längst umbenannt waren, aber den Geist noch atmeten, hieß diese Art von Etablissement Blitzgastronom. Ein Schnellrestaurant wie McDonald's, nur weniger uniform. Die Halbreliefs über den Auslagen zeigen Fischer, Bäuerinnen und Gärtnerinnen bei der Ernte, was schon zur Entstehungszeit Anfang der fünfziger Jahre folkloristischer Kitsch war, der eine dunkle Erzählung aus der Zeit der Kollektivierung übertünchte.

Ich stehe mit Dimitrij Zadorin an einem der Stehtische. Wir trinken Bier aus Plastebechern. Er hat uns den ganzen Tag lang durch Minsk geführt, dessen Bauten er kennt wie nur wenige. Er ist einer jener Architekturhistoriker, die für ihren Gegenstand glühen und gleichzeitig an ihm zweifeln, weil sie glauben, ihr Leben in Archiven zu verschwenden, "auf der Suche nach meiner Kindheit", wie er sagt. Mir kommt das vertraut vor und es ist mir sympathisch. Man weiß nicht, wovon man morgen leben, wo man wohnen soll, aber der Fund eines lang gesuchten Dokuments kann einen tagelang glücklich machen.

Zadorin wurde 1983 in Minsk geboren, hat aber viele Jahre in den Niederlanden verbracht und an der Technischen Universität Delft studiert. Fünf Jahre arbeitete er als Architekt in Moskau, demnächst wird er bei DOM publishers in Berlin einen Architekturführer über Minsk herausbringen. Als Experte für den sowjetischen Massenwohnungsbau war er wie ich eingeladen zu einem Workshop des Goethe-Institutes: "Was war Sowjetkultur? Sowjetische Architektur und Stadt des Modernismus". Das Goethe-Institut plant für 2019/2020 eine Gemeinschaftsausstellung seiner Regionalinstitute in Russland, der Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, Armenien, Usbekistan, Kasachstan und Weißrussland, die der architektonischen Sowjetmoderne und ihrem Nachleben bzw. ihrer Zerstörung an den unterschiedlichen Orten des ehemaligen Imperiums gewidmet sein wird. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beteiligten Regionalinstitute waren nach Minsk gekommen, um zusammen mit Experten Themen und Ideen zu entwickeln, wie so eine Ausstellung aussehen und was als roter Faden taugen könnte, um die unterschiedlichen Orte miteinander zu verbinden.

Ein in Beton gegossenes Selfie

Minsk als Veranstaltungsort war nicht zufällig gewählt, gilt doch die Stadt als gut erhaltene und gepflegte Enzyklopädie der Sowjetmoderne, wie Dimitrij Zadorin und die Minsker Philosophin und Autorin Olga Shparaga in ihren Vorträgen und einer Stadtführung erläuterten. Es gibt Architektur aus allen Epochen, vom Konstruktivismus über den Neoklassizismus, die Nachkriegsmoderne bis hin zur vermeintlich authentisch rekonstruierten Altstadt am Ufer des Flusses Swislatsch. Und gleich daneben die Wiederkehr des Pompösen nach dem Ende des Imperiums – ein an die Stalinschen Wohntürme erinnerndes, in Beton gegossenes Selfie eines inzwischen in staatliche Ungnade gefallenen Profiteurs des Zusammenbruchs, mit eklektizistischem Penthouse als i-Tüpfelchen.

Lange Zeit lag die Betonung auf der Heldenstadt Minsk, seit einigen Jahren hat für Jüngere die Erforschung der jüdischen Stadt an Bedeutung gewonnen. Die deutsche Wehrmacht hatte 1944 nach dreijähriger Besatzung verbrannte Erde und Zehntausende von Gräbern hinterlassen, die Einwohnerzahl war von 240.000 auf 50.000 gesunken, es gab Pläne, die Hauptstadt der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik an anderer Stelle wieder zu errichten. Man hat sich zugunsten einer Neuausrichtung des Stadtrasters dagegen entschieden. Dabei war weniger die Kommunistische Partei maßgeblich für die Stadtplanung als vielmehr die 1933 verabschiedete Internationale Charta von Athen, das Projekt der Moderne, dessen Utopie die Trennung von Wohnen, Erholung, Verkehr und Arbeit vorsah und die Stadtentwicklung im restlichen 20. Jahrhundert in allen Industrieländern prägte. Insofern ist das Thema eines, was nicht nur das "fragmentierte Imperium" der zersplitterten Sowjetunion betrifft, sondern ein schwieriges Erbe stellvertretend für die Industriestaaten erzählen könnte.

Bis zur Unkenntlichkeit renoviert

Zwischen der ersten Epoche, der sowjetischen Avantgarde der 1920er Jahre, und der Nachkriegsmoderne lag die Phase der stalinistischen Architektur. Für Minsk hat sie der Künstler, Autor und Herausgeber Artur Klinau, der auch beim Workshop anwesend war, in Anlehnung an Tommaso Campanella als "Sonnenstadt der Träume" beschrieben, hell, voller leerer Flächen und breiter Magistralen. "Wenn die kommunistische Utopie ein Projekt zur Errichtung des allgemeinen Glücks war, dann musste die ideale Stadt die Ästhetik des Glücks erschaffen, deren Ausgestaltung davon abhing, wie sich die Erbauer dieser Utopie das Glück vorstellten. (...) Der Mensch der kommunistischen Zukunft sollte nicht in armseligen Hütten und Plattenbauten leben, sondern in prächtigen Palästen, von den schönsten Parks mit Brunnen und Skulpturen umgeben."

Es blieb eine Utopie, schon allein, weil es unbezahlbar war. Die Mehrzahl der Menschen lebte in den 1950er Jahren in Lagern, Holzhütten und Kommunalkas. "Die Volkspaläste der Sonnenstadt waren eigentlich gar keine Paläste, sie symbolisierten sie nur", so Klinau. "Sie schufen lediglich die Illusion eines Palasts. Ihre Füllhornfassaden waren einfach nur vor den konstruktivistischen Körper des Gebäudes gestellt, das nur eine, höchstens zwei palastwürdige Wände hatte." Dazu passte auch der Ort, den das Goethe-Institut für den Workshop gewählt hatte und der in diametralem Gegensatz zum Gegenstand der sowjetischen Moderne steht und doch auf dialektische Weise mit ihm verbunden ist. Das Haus der Freundschaft in der Sacharowstraße, unweit des Siegesplatzes, sieht aus wie die Villa eines zarentreuen Großbourgeois aus dem 19. Jahrhundert, mit riesigen Kronleuchtern im Hauptsaal, einem Flügel mit goldglänzendem Schonbezug und einem fünf Meter hohen, realistischen Wandbild, das vier Frauen beim Verfertigen eines Wandteppichs mit dem Motiv Urwald von Bialowieza mit Wisent zeigt. In Wirklichkeit ist das Gebäude Anfang der 1950er Jahre errichtet, in jener oben erwähnten neoklassizistischen Epoche, die der Architekturkritiker Wolfgang Kil "forcierten Regionalismus" genannt hat.

Die Sprache der Moderne

Leichter als vom Neoklassizismus mit seiner Fassadenhaftigkeit und Großprotzigkeit scheint sich die Menschheit von dem vielschichtigen Erbe der Moderne zu trennen. Wie überall auf der Welt ist es in Russland und den Nachfolgestaaten der UdSSR bedroht oder schon vernichtet, überbaut oder bis zur Unkenntlichkeit renoviert. Andererseits altern Beton und Stahl nicht so würdevoll wie Ziegelwände, es braucht Mittel für Unterhaltung und Renovierung.

Zwei, die sich schon lange mit der sowjetischen Kultur der östlichen Moderne in all ihrer Widersprüchlichkeit beschäftigen, sind der Wiener Kurator, Autor und Herausgeber Georg Schöllhammer und der Jerewaner Künstler, Kunstkritiker und Kurator Ruben Arevshatyan. 2016 haben sie im Rahmen einer mobilen Akademie mit dem Titel The Empire strikes back in einer Arbeitsgruppe dieses Erbe in den unterschiedlichen Regionen der früheren Sowjetunion erforscht und Ausstellungen in Sao Paulo und Istanbul kuratiert. Ruben Arevshatyan wies in seinem Vortrag auf die vielen Experimentalbauten hin, die lokale Planungsbüros konzipierten, indem sie mit Konzepten internationaler Architektur und dem Erbe der sowjetischen Avantgarde der 1920er Jahre experimentierten und eine ganz eigene Sprache der Moderne kreierten – ein längst noch nicht aufgearbeitetes Kapitel, das eng mit der deutschen Architekturgeschichte verwoben ist, von der roten Bauhaus-Stoßbrigade Rot Front Anfang der 1930er Jahre über die von deutschen Kriegsgefangenen errichteten Nachkriegsbauten bis zu dem vielfältigen internationalen Zusammenwirken in den 1960er und 1970er Jahren.

Für die Zeit nach 1960 unterscheidet man allein drei Modernen. Sie geht einher mit einer enormen Ausdehnung des städtischen Raums und der Errichtung von Mikrorayons als Städten in der Stadt, die bis heute jeder durchfährt, der von einem Flughafen ins Zentrum einer beliebigen postsowjetischen Stadt zu gelangen versucht. Ob Bauhaus in Engels an der Wolga oder in Magnitigorsk, Konstruktivismus in Jekaterienburg, der an Ulrich Müthers Werke erinnernde Betonschalenbau der Belekspo in Minsk, die an Corbusier orientierten Wohnmaschinen in Kiew oder die Zusammenarbeit internationaler Architekten beim Wiederaufbau der von einem Erdbeben zerstörten usbekischen Hauptstadt Taschkent auf der Suche nach der idealen und zugleich erdbebensicheren Stadt: Es gäbe viel zu erzählen und zu zeigen. Interessanter Nebenaspekt ist zum Beispiel, dass die Planung und der Entwurf im Kollektiv mehr Frauen eingebunden hat als zur selben Zeit im Westen.

Kein Raum für den Tod

Wie so eine Ausstellung aussehen könnte, darüber war man sich nach dem ersten Überblick über die möglichen Themenkomplexe noch nicht einig. So unterscheidet sich der Umgang Russlands mit dem sowjetischen Erbe erheblich von dem der 14 anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Gerade die Architektur, vor allem die repräsentative der Stalinzeit, ist mit den Worten Georg Schöllhammers "ein ideologisches Instrument der Reinstallation einer imperialen Idee von Russland mit den Mitteln der Nostalgie auf die verlorene Sowjetmacht". Für die ehemaligen nichtrussischen Sowjetrepubliken ist sie eher ungeliebtes Erbe eines Kolonialismus, mit dem sie sehr verschieden umgehen. Es reicht von der Pflege in Minsk zum Verfall wie in Kiew bis zum Abriss in Tbilissi.

Eine Möglichkeit wäre, von einer architektonischen Gemeinsamkeit aus das Besondere zu erzählen. Die Chrustschowka zum Beispiel. Dieser Typenbau aus industriell vorgefertigten Teilen wurde seit Ende der 1950er Jahre millionenfach in der ganzen Sowjetunion auf der grünen Wiese errichtet. In Russland nimmt er allein zehn Prozent der Gesamtfläche ein. Karl Schlögel hat ihm in seinem kürzlich erschienenen Buch Das sowjetische Jahrhundert ein Kapitel gewidmet. "Was sich auf den ersten Blick als Plattenbauwüste darstellt, entpuppt sich beim zweiten Hinsehen als die zum Stillstand gebrachte 'Wanderdüne' spontaner und erzwungener Migration, als Sesshaftwerden einer entwurzelten Bevölkerung." Der Typenbau erfüllte den Traum der eigenen vier Wände und machte aus dem kollektiven Subjekt eine Privatperson, die die Tür hinter sich schließen konnte. Aber weil in den Chrustschowkas zu viele Menschen auf zu wenig Raum lebten, wie eine Minsker Teilnehmerin zum Abschluss des Workshops erzählte, war immer Leben in der Bude, draußen und drinnen. Für den Tod war kein Raum vorgesehen. Starb jemand in der Wohnung, wurde er zum Problem – die Särge passten nicht durchs Treppenhaus. 

Die Autorin war auf Einladung des Goethe-Institutes in Minsk.
 

Annett Gröschner lebt als Schriftstellerin und Publizistin in Berlin. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Radiofeatures und Reportagen. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".


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