10 nach 8: Mateja Meded über Rassismus

 
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19.02.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Wütende Frau mit Migrationshintergrund
 
Als Fünfjährige kam ich illegal nach Deutschland. Bis heute haftet mir das Stigma "Flüchtling" an, aber mittlerweile bin ich soweit, sogar AfD-Sympathisanten zu umarmen.
VON MATEJA MEDED

Mateja Meded studierte an der Filmuniversität Babelsberg. Sie arbeitet als Schauspielerin. Zur Zeit stellt sie ihren ersten Langfilm fertig, "Berlin Harlekin". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". © Hannes Caspar
 
Mateja Meded studierte an der Filmuniversität Babelsberg. Sie arbeitet als Schauspielerin. Zur Zeit stellt sie ihren ersten Langfilm fertig, "Berlin Harlekin". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". © Hannes Caspar
 
 

Ich bin fünf Jahre alt und sitze seit Stunden in einem tannengrünen 1er-Golf. Wir sind zu sechst. Es ist heiß, Klimaanlage im Auto haben wir nicht, wir haben nur uns und eine ungewisse Zukunft. Anhalten dürfen wir nicht, da ich versteckt bleiben muss. Es ist höllenheiß, Oma schwitzt zwischen den Beinen, da bin ich, mit meinem Kinderkörperchen, unter ihrem Rock. An der Grenze befiehlt der Grenzwärter, dass Mama und Tante, Fahrerin und Beifahrerin aus dem Auto steigen. Ich bin passlos und somit vollkommen illegal und deswegen unter Omis Rock, die hinten sitzt. Der Grenzwärter sucht mit seiner Hand unter dem Fahrersitz. Ich höre auf zu atmen. Er hört meinen Atem, denke ich. Ich sehe seine Hand. Sie tastet großflächig den Boden vor mir ab. Meine Füße und mein Kinderwurmkörper sind mit dem hinteren 1er-Golf-Sitz verschmolzen, deswegen findet er meine trotz Hitze kalten Füßchen nicht, obwohl seine Hand immer nur ein paar Zentimeter von ihnen entfernt ist. Ich höre, wie irgendetwas ganz laut ist. Ich merke, ich bin es. Ich versuche, mein Herz anzuhalten, doch einer Fünfjährigen gelingt so etwas nicht auf Anhieb. Er hört auf zu suchen. Mama und Tante setzen sich zurück in den Golf. Wir haben überlebt. Deutschland, wir kommen. Hallo, Asylantenheim.

Und dann saß ich da. Ein illegales abgemagertes Kind in einem fremden Land, dessen Sprache es nicht verstand. Ich bekam einen Stempel aufgedrückt, auf meine Stirn, Flüchtling. Von da an war ich kein Individuum mehr, ich gehörte zu der homogenisierten Masse der/die/das Flüchtlinge. Ich wurde damals passiv gemacht, entmündigt und in die Flüchtlingspassform reingequetscht, und dieses Wort ist bis heute nicht verschwunden, es wurde mir auf die Stirn tätowiert und hat sich über die Jahre mehrmals transformiert. 

Nach dem Wort Flüchtling kam "die Ausländerin" und momentan bin ich "Frau mit Migrationshintergrund". Dieser Migrationsvordergrund wird vor allem in meinem Beruf als Schauspielerin sichtbar. Mir werden überwiegend stereotypische Rollen angeboten: Ostblockprostituierte, die gebrochen Deutsch/Englisch spricht; Putzfrau, die wenig oder gar nicht spricht; Roma, die bunte Kleider trägt, die alle farblich nicht harmonieren. Lange Zeit war ich sehr frustriert darüber, dass ich von der Film- und Theaterwelt trotz Schauspielstudiums nur als undeutsches Fleischprodukt angesehen wurde.

Immer, wenn wir eine bestimmte Zeit betreten, nämlich die der gesellschaftlichen Erneuerung, sollen die zu Außenseiterinnen Gemachten sich legitimieren. Schwule und Lesben müssen erklären, was es heißt, gay zu sein, und warum es okay ist, "so" zu sein, Frauen müssen Männer über den Feminismus aufklären, People of Color müssen weißen Menschen erklären, was Rassismus ist.  

Es war eine energiesaugende Abwärtsspirale für mich, beispielsweise der Mutter eines Freundes am Weihnachtstisch erklären zu müssen, dass meine Familie und ich nicht zu den "ursprünglichen Völkern" gehören, nur weil ich weiß, wie eine Nuss mithilfe eines Messers aufgemacht wird; oder mit linken Intellektuellen streiten zu müssen, die es nicht rassistisch finden, das N-Wort zu benutzen, weil Brecht es schließlich in seinen Stücken auch verwendet hat. Ich habe keine Kapazitäten mehr, privilegierten weißen Menschen meine Bildung und Zeit zu schenken, nur weil sie ignorant sind.

Für diese Menschen bin ich immer das Andere. Ein Alien. Ich gehöre nicht zum Kreis der Deutschen, wegen meiner Brandmarke "Flüchtling". Ich schaue mir das Wort, das niemals von den Bewohnern der herrschenden ersten Welt getragen wird, genauer an. Dieses Suffix "ling" – Pfifferling, Lehrling – hat zumeist eine verkleinernde Wirkung; und die Endung "-ling" – Fiesling, Sträfling, Miesling, Häftling – hat zumeist eine negative Konnotation.

Ich frage mich auch: Als meine Mama, ich, Oma, Tante und all die anderen Frauen nach Deutschland gekommen sind, zu welchem Zeitpunkt haben wir da eigentlich Penisse bekommen? Oder gibt es ein weibliches Wort für Flüchtlinge, so etwas wie: Flüchtlingerin, Flüchtlingin. Das System, in dem wir leben, ist immer noch ein starres Gebilde, und eines der Mittel dieses Systems ist die Sprache. Mit der Sprache werden Menschen unterbewusst in Schubladen eingeordnet, unterjocht. Namen sind nicht bloß Schall und Rauch, und besonders wenn dein Name keine deutsche DNS hat, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass du die Wohnung bekommst. Alle Macht geht vom Staate aus, doch vor dem Gesetz sind wir nicht alle gleich.

Was Duldung wirklich bedeutet

Ich erinnere mich, wie wir damals alle drei Monate zum Rathaus mussten, um unsere Duldung zu verlängern. Meine ganze Familie musste dieses Duldungspapier immer, in jeder Sekunde, am Körper tragen. Eines Tages vergaß mein behinderter Onkel jedoch seine Duldungspapiere. Es war ein milder sonniger Nachmittag, und mein Onkel – 1,93 Meter groß, mental auf dem Stand eines siebenjährigen Kindes, seine linke Seite größer und dicker als die rechte, sehr introvertiert und liebevoll – ging allein spazieren. Auch aus der Entfernung war nicht zu übersehen, dass dieser Junge behindert ist und porzellanzart. Zwei Polizisten haben ihn angehalten, sie haben ihn mitgenommen und eingesperrt. Meine Familie hat ihn überall gesucht und sämtliche Polizeistationen angerufen. Am frühen Morgen wurden wir endlich informiert und Oma, Mama und Tante haben ihn abgeholt. 

In seiner Knastkleidung hatte er sich mehrmals entleert. Danach war er vollkommen verstört, und er zittert heute noch, wenn er Polizisten oder Polizeiautos sieht. Er hatte ein einziges Mal seine Duldungspapiere nicht dabei, und die fränkische Gründlichkeit machte auch vor Behinderten keinen Halt. An diesem Tag habe ich begriffen, was Duldung wirklich bedeutet und auch, dass wir diejenigen waren, die erdulden, ertragen, es über uns ergehen lassen mussten.

Mein Onkel war derjenige, der sich am meisten gefreut hat, als die kiloschwere Abschiebepost kam. "Diese Leute haben einen ganzen Baum für uns geopfert, um all diese Paragrafen unterbringen zu können. Ich komme mir vor wie eine Großkriminelle", kicherte (Überlebensstrategie) meine Tante und war weg, mit dem Rest meiner Familie. Sie waren zwar keine Großkriminellen, doch sie haben nicht zu den guten, den brauchbaren Geflüchteten gehört. Meine Mama und ich, wir haben aber zu den Guten gehört und wir durften bleiben, denn meine Mama hat Medizin studiert und in Erlangen gab es zu wenig Krankenschwestern. Also wurde sie eine, und wir blieben innerhalb der deutschen Grenze.

Der Luxus einer Heimat

Ich verstehe dieses Bestehen auf Grenzen nicht so ganz und noch weniger verstehe ich, weswegen wir Mauern und Zäune akzeptieren. Dadurch schließen wir uns ein und stagnieren in unserer Entwicklung, wir berauben uns eines natürlichen Fortschritts, denn Massenwanderungen haben immer stattgefunden, und die Menschheit hätte ohne diese nicht überlebt. Solange wir Mauern auf der Erde haben, haben wir sie auch im Kopf. Ich will frei sein, ich brauche keine Wurzeln, die ich durch Zäune schütze. Meine Familie wurde über mehrere Generationen verfolgt und vielleicht ist so etwas wie Heimat gar nicht vorgesehen für mich.

Den Luxus einer Heimat wollte ich mir nie leisten. Ich als Neudeutsche – aber ohne deutschen Pass – könnte den AfD-Anhängern allerdings erklären, was es heißt, deutsch zu sein. Ich bin eine besorgte Bürgerin, denn ich frage mich, ob diese Altdeutschen überhaupt noch integrierbar sind: "Ja, Hans, ein Deutscher kann auch einen Afro tragen. Nein, Joachim, eine Deutsche muss nicht in Deutschland geboren sein." Die haben einfach nicht begriffen, dass der Zug des Ariertums abgefahren ist. Finito, kein Foto für euch, aus die Maus.

Ich hatte schon immer ein Faible für Hängengebliebene, doch früher habe ich manchmal die Hoffnung verloren und mir dann vorgestellt, wie ich mich an diesen Leuten räche. Diese Gefühle der Zerstörung habe ich jahrelang in mir getragen, und ich wurde immer griesgrämiger, denn solch dunkle Gedanken wiegen mehr als bunt-fröhliche. Doch dann, als ich mal auf einem Trip war, habe ich mit meinem Kumpel Flaubert gequatscht und er meinte: Der ganze Traum der Demokratie besteht darin, das Proletariat auf das Dummheitslevel zu hieven, welches die Bourgeoisie bereits erreicht hat.

Jetzt bin ich gerade dabei, mich aus den Ketten zu befreien, die mir angelegt wurden, als ich nach Deutschland gekommen bin. Deswegen würde ich all die AfD-Sympathisanten heute eher umarmen und sie zärtlich zu meiner Brust führen, um diesen kalten Kreaturen etwas von meiner schönen, warmen Muttermilch in die Münder zu spritzen und ihnen ins Ohr zu flüstern: "Mäuschen, du brauchst keine Angst haben, dass ich dir was wegnehmen will, du brauchst nur Angst haben, wenn ich Auto fahre. Mein Führerschein ist gekauft."


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