Freitext: Emma Braslavsky: Die Vorfahren aus Afrika, die Tochter semmelblond

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 

11.02.2018
 
 
 
 
Freitext


Die Vorfahren aus Afrika, die Tochter semmelblond
 
 
Warum haben Menschen Angst vor Migration? Wir alle sind Geflüchtete. Eine Speichelprobe hat mir die Geschichte meiner Familie erzählt. Sie wird bei allen ähnlich sein.
VON EMMA BRASLAVSKY

 
Eine Formation wandernder Sterne nahe Rahat, Israel © REUTERS/Nir Elias
 
Es geschah im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf in Westafrika, unweit der Atlantikküste, wo die Geschichte zwar längst nicht begonnen hatte, aber wo sie einen nächsten entscheidenden Wendepunkt nahm: Eine meiner Ur-Ur-Ur-Ahninnen ergriff die Flucht. An sich keine spektakuläre Sache in den Annalen meines Klans, aber diesmal sollte sie nicht nur interkontinentale Ausmaße haben, sondern derartige Konsequenzen, die die jüngsten genuinen Linien meines Geblüts im (für historische Verhältnisse) “Affentempo” verbogen.
 
Sie (nennen wir sie Dalanda) stand kurz vor ihrer Volljährigkeit, eine schmale, hochgewachsene Nymphe, vielleicht die zweitschönste in ihrem Dorf, die ihrem Namen durch ihre Neugier, ihren Einfallsreichtum und Witz alle Ehre machte. Doch ihre Kindheit und Jugend war bestimmt von der Angst der Familie und der Dorfbewohner vor Überfremdung. Über die nördliche Atlantikroute kamen mehr und mehr Schiffe mit fremdartigen, männlichen Einwanderern, meist abgemagerte, weißhäutige Franzosen oder Spanier ohne größere Bildung, die aus den kalten, ärmlichen “Scheißlöchern” Europas kamen, um in der warmen, paradiesischen Elfenbeinküste die gesellschaftliche Freizügigkeit auszunutzen und am uneingeschränkten Zugang zu den Reichtümern der Natur teilzuhaben. Die Dorfältesten nannten sie verächtlich “Weißes Pack”. Die Frauen wurden angehalten, sich von diesen Männern fernzuhalten, denn sie fürchteten nichts mehr als den Untergang ihrer Kultur.
 
Als kleines Mädchen stahl Dalanda sich manchmal unter einem Vorwand aus der Lehrstunde, suchte sich ein gutes Versteck am Hafen und beobachtete von dort aus fasziniert die Ankunft der Weißen, deren Haut nie so weiß war, wenn sie ankamen, sie war eher dunkel vom Dreck der wochenlangen Überfahrt.
 
Vor zwei Wochen legte wieder so ein Schiff mit Weißen an, aber diesmal stieg ein Mann aus, dessen Haut so rein und so weiß war wie sein Hemd und der solch türkisfarbene Augen wie das Meer selbst hatte, dass Dalanda dachte, die Götter höchstpersönlich hätten ihn geschickt. Dieser Jüngling aus Frankreich, nennen wir ihn Elliot, war gekommen, um die Sprache und Kultur der Einwohner zu studieren und ein Buch darüber zu verfassen. Doch niemand im Dorf wollte ihm dabei behilflich sein – bis auf Dalanda. Sie traf ihn nur nachts und immer nur für drei Stunden und weihte ihn heimlich in die Welt ihrer Vorfahren ein. Dalanda wusste, dass das ein Verbrechen war. Und sie wusste, als Elliot sie küsste, dass von da an nichts mehr so sein würde wie vorher. Bald erfuhr ihre Familie von ihrer Liaison mit dem Franzosen, und bald bemerkte sie ihre Schwangerschaft. Und Elliot liebte sie aufrichtig. Dalanda floh mit ihm vor dem Mitleid ihrer Familie und dem Gefühl der Schande, aber sie floh in die Hoffnung auf ein glücklicheres Leben mit ihm. Monatelang zogen sie übers Festland Richtung Norden, ausgezehrt von der Hitze, von Unwegsamkeiten und unzähligen Betrügereien, aber getrieben vom Adrenalin der Neugier, bis sie endlich den Hafen von Melilla erreichten und mit einer Schaluppe nach Europa übersetzten.
 
Am Grab weinten nur Frauen
 
Und weil Elliot sich nicht mit einer (schwarzen) Frau wie Dalanda zu Hause sehen lassen konnte, versteckten sie sich im Sommerhaus bei Freunden auf Sardinien. Dort brachte Dalanda einen Jungen zur Welt, nennen wir ihn Jacopo, dessen Haut wie Honig glänzte und dessen krauses Haar rötlich-braun in der Sonne schimmerte. Elliot verdiente sich Geld als Lehrer, und Dalanda versteckte sich meistens im Haus, weil sie die verächtlichen Blicke der Dorfbewohner nicht aushalten konnte. Sie kümmerte sich um ihren Sohn, unterrichtete ihn und konnte ihm keinen Wunsch abschlagen, er war der Blickfang der gesamten Insel.


...

Den ganzen Freitext lesen Sie auf ZEIT ONLINE.


Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich.
  VERLAGSANGEBOT
Lesegenuss pur!
Lesegenuss pur!
Lernen Sie jetzt DIE ZEIT als E-Paper, App, Audio und für E-Reader kennen! Lehnen Sie sich zurück und erleben Sie die neue Art des ZEIT-Lesens. Mehr erfahren >>