10 nach 8: Marlen Hobrack über Sexualität

 
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21.02.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Bermudadreieck der Lust
 
Die erste Erektion ist Thema in unzähligen Filmen. Das sexuelle Erwachen von Mädchen hingegen wird entweder instrumentalisiert oder ignoriert. Das muss sich ändern.
VON MARLEN HOBRACK

Sue Lyon 1962 in Stanley Kubricks "Lolita"-Verfilmung: Die Sexualität junger Mädchen wird seit jeher meist durch die männliche Brille gespiegelt. © Silver Screen Collection/Getty Images
 
Sue Lyon 1962 in Stanley Kubricks "Lolita"-Verfilmung: Die Sexualität junger Mädchen wird seit jeher meist durch die männliche Brille gespiegelt. © Silver Screen Collection/Getty Images
 
 

Vor einigen Wochen tobte das KiKa-Gate auf Twitter. Für diejenigen, die es verpasst haben: Der Kinderkanal hatte sich einen Shitstorm eingefangen, weil er in einem dokumentarisch erzählten Film von der Beziehung der 16-jährigen Malvina und ihrem Freund Diaa aus Syrien erzählt hatte. Die Kontroverse drehte sich zunächst um das Alter des jungen Mannes. Das wurde vom KiKa zunächst mit 17 angegeben und später auf 19 korrigiert. Zuschauer wollten auch das korrigierte Alter nicht glauben, immerhin sei der junge Mann ja vollbärtig.

Bei der Gelegenheit kamen alle Themen aufs Tableau, die anständige Deutsche zum Kochen bringen: Altersüberprüfung für alle Flüchtlinge! Fremde Männer, die Sex wollen mit unseren Mädchen! Der Kinderkanal propagiere – zwangsgebührenfinanziert – die Vermischung von Deutschen mit Kulturfremden. Dass der Sex zwischen den beiden, von dem gar nicht bekannt ist, ob er überhaupt stattfindet, so viel Aufmerksamkeit bekam, lässt sich auf einen einfachen Reflex zurückführen: Nichts erhitzt die Gemüter stärker als das Bild einer mädchenhaften Unschuld, die "verführt" wird.

Verführte Mädchen sind ein uralter und beliebter Topos. In Hartmann von Aues Verserzählung Der arme Heinrich aus dem 12. Jahrhundert wird das Mädchen nicht durch sexuelle Avancen verführt, wohl aber durch das Versprechen auf den sofortigen Einzug ins Himmelreich zum Liebesopfer überredet. Es folgt eine Splatter-Szene, in der das Mädchen nackt auf den Tisch gebunden wird: Man will ihr das noch pochende Herz herausreißen, damit der gute arme Heinrich von seiner Krankheit geheilt werden möge. Ganz so arg geht es in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts natürlich nicht mehr zu und doch bleibt das Mädchen Objekt dubioser Begierde.

Die kleine Alice im Wunderland etwa hat ein reales Vorbild, für das sich der Autor Lewis Carroll etwas zu sehr auf die falsche, weil sexuelle Art interessierte. Und natürlich müssen wir beim Thema Sex und Mädchen an Nabokovs Lolita denken. Diesen und anderen literarischen Mädchenfiguren ist gemein, dass sie unmittelbar den Fantasien der Männer entsprungen sind und nur diesen dienen. Scheinbar unschuldig und sexuell unbeschrieben, sind sie die idealen Projektionsflächen für das männliche Begehren. Weiße Leinwände. Was es Mädchen und jungen Frauen nicht selten erschwert hat, ihre Sexualität selbstbestimmt zu inszenieren oder auch nur zu erfahren.

Während es für die sexuellen Bedürfnisse der Jungen selbst in der Phase der Frühadoleszenz Bilder gibt – vom "feuchten Traum" bis zur ungewollten, dem Jungen höchst peinlichen Erektion – gibt es Vergleichbares für Mädchen nicht. Keine Filmszene etwa, in der ein Mädchen vom ersten Feuchtwerden, von einem unwillkürlich erfolgten Orgasmus gar, überrascht wird. Bei Mädchen ist es die erste Periode, die sie überrascht, die für Scham und Pein sorgt, man denke nur an Brian de Palmas Carrie. Aber das ist natürlich etwas anderes. Die Periode hat mit Zeugungsfähigkeit zu tun, nicht mit Lust. 

Erfrischend in dieser Hinsicht ist eine Erzählung des Herrenmagazin-Modells Carmen Electra, das einst von einer höchst erregenden Busfahrt in zu engen Jeans im Alter von 12 oder 13 erzählte. Was natürlich wiederum vor allem die Fantasien der männlichen Leser befeuerte, macht einen wichtigen Punkt: Die in unserer Kultur allzu oft zur reinen Unschuld stilisierten Mädchen und jungen Frauen haben auch selbst erotische Fantasien und sexuelle Triebe. Was im Falle der KiKA-Doku so sehr empörte, ist vor allem das Ergebnis einer in unserer Kultur hartnäckig ausgeblendeten Erkenntnis: dass auch Mädchen sexuelle Wesen sind, dass auch Mädchen geil werden. Natürlich ist das ein heikles, ein zu oft ins Schlüpfrige gewendetes Thema. Aber es deswegen zu ignorieren, gar zu tabuisieren, hilft nicht weiter.

Nie geht es um die Bedürfnisse der Mädchen

An dieser Stelle ein Geständnis: Als Zwölfjährige klaute ich in der Schulbibliothek ein Aufklärungsbuch (es tut mir wirklich, wirklich leid!), weil mich das Interesse an Sex, sozusagen, übermannte. Auch das Buch Mann und Frau intim vom Ost-Sexualaufklärer Siegfried Schnabel mit eher unspektakulären Bildern von Sexualstellungen war mir in die Hände gefallen: Ich wusste allerdings nicht viel mehr damit anzufangen, als die Nippel der Strichmännchen auszumalen. Und dann war da eben noch das Herrenmagazin mit Carmen Electras erster, nun ja, elektrisierender Erfahrung. Trotzdem ist und war das Thema Masturbation von Mädchen ein echtes Tabu. Kein Wunder, ist es doch bei erwachsenen Frauen auch nicht anders.

Je hartnäckiger die Sexualität von Mädchen geleugnet wird, desto bunter blühen die Fantasien, die sie umranken. Oder ist es umgekehrt? In den Lolita-Fantasien geht es ja nie um die Bedürfnisse der Mädchen, die den Unschuldstopos unterlaufen würden. Dieser blinde Fleck der Männer verschränkt sich mit dem gesamtgesellschaftlichen Tabu, die Sexualität von Mädchen anzuerkennen – liefert es "Verführern" und Pädophilen doch eine gute Ausrede, nicht nur für Fantasien, sondern auch Handlungen. Daher noch mal: Lust auf Sex zu haben und Gegenstand sexueller Projektionen zu sein, sind zwei ganz verschiedene Dinge.

Paradoxerweise, oder vielleicht gerade deshalb, weil wir die Sexualität von Mädchen so erfolgreich verdrängen, sind mädchenhafte Model-Looks nach wie vor gefragt. Wie ja überhaupt die sehr schlanken Körper von Models an Frühadoleszente erinnern. Bei Heidi Klums Körpershow dürfen auch 16-Jährige von schräg unten in knappen Bikinis gefilmt werden, was bisher noch keinen Patrioten empörte.

Von links wie rechts wird Sexualisierung beklagt

Auch Gemälde, die Frühadoleszente mit gespreizten Beinen zeigen, wollen Kunstsinnige verteidigen, Bilderstürmer aber beseitigen. So geschehen in New York. Über die Petition gegen das Balthus-Gemälde Thérèse, träumend im Metropolitan Museum wurde aufgeregt berichtet. Es verkläre die "Sexualisierung von Kindern", so der Petitionstext. Und hier liegt das Problem: Von links wie von rechts, von Feministinnen wie von Ultrakonservativen wird eine Sexualisierung beklagt. 

Dominant ist besonders die Vorstellung von sexuell unschuldigen Kindern, die durch Bilder oder gar Aufklärungsmaterial zu verfrühten sexuellen Handlungen verleitet werden oder die Fantasien von Erwachsenen erregen. Richtig aber ist, dass Kinder immer schon sexuelle Wesen sind, und dass sie mit Beginn der Adoleszenz Interesse an sexuellen Themen wie auch dem eigenen Körper entwickeln. Sie sind in diesem Sinne "sexualisiert". Die gesamte Psychoanalyse gründet auf der Annahme von infantiler Sexualität – was übrigens bis heute für viele ein ungeheures Skandalon darstellt.

Unser Unbehagen sollte sich stattdessen gegen Werbung, Kunst und andere kulturelle Erzeugnisse richten, die einerseits diesen Umstand hartnäckig ausblenden, zugleich aber Kinder mit sexuell-aufgeladenen Bildern bombardieren oder sie hübsch frisiert auf Bühnen von Mini-Miss-Wahlen stellen. Die Petition gegen das Balthus-Gemälde liegt falsch, weil das Begehren der kleinen Thérèse ganz real sein könnte. Was die Petition aber illustriert – übrigens nicht anders als das Gemälde selbst – ist die affizierende Wirkung der Bilder. Der realen und der imaginären. Wenn jemand die kleine Thérèse anschaut und ins Träumen gerät, muss er noch lange kein Pädophiler oder potenzieller Sexualstraftäter sein. Man muss hier die Imagination scharf von der realen Handlung trennen. Bilder setzen Stachel ins Fleisch der Imagination, deswegen erzeugen sie die Aggression von Bilderstürmern, zu allen Zeiten.

Wenn wir den Gedanken zuließen, das Mädchen erregt werden und geil sein können, vor allem aber wenn eigenständige Bilder weibliche, frühadoleszente Lust zu formalisieren wüssten, könnten Mädchen viel selbstbewusster ihre eigene – anstelle der von einem männlich geprägten Blick oktroyierten – Sexualität entdecken.

Denn diese männliche Perspektive stellt das Aussehen über das Erleben, verhüllt schamhaft, was real ist: Traum und Begehren der kleinen Thérèse, der kleinen Alice, der kleinen Marlen.


Marlen Hobrack studiert im Masterstudiengang Kultur- und Medienwissenschaften, nachdem sie zuvor einige Jahre in einer Unternehmensberatung gearbeitet hat. Derzeit schreibt sie an einem Social-Media-Roman. Sie lebt mit ihrem Sohn in Dresden und ist Gastautorin bei "10 nach 8".


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