Mir ist sehr unwohl dabei, dass in diesen Tagen ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung darüber bestimmt,
ob wir nun jetzt endlich eine neue Regierung bekommen oder nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Abstimmungen wie der
Mitgliederentscheid der SPD über die große Koalition unsere Demokratie wirklich besser machen – oder ob sie nicht am Ende (unabsichtlich) die Demokratie gefährden.
Dachten wir in der Bundesrepublik nicht immer, wir hätten das feinste System von allen? Nicht zu archaisch mit Wahlmännern und Caucus-Verfahren
wie in den USA, nicht mit Stimmenvernichtung durch Mehrheitswahl wie in
England, nicht zu präsidialmonarchisch wie in
Frankreich. Nun aber zeigt unser parlamentarisch-repräsentatives System auf einmal erschreckende Schwächen. In Deutschland wird der Wunsch zu regieren zunehmend unter den Verdacht der Postenklauberei gestellt. Das kann schließlich dazu führen, dass am Ende keiner mehr die Macht hat – oder sie geht an die Falschen.
Unsere repräsentative Demokratie wird derzeit von drei Seiten herausgefordert:
Angst vor Regierungsmacht Erstens haben wir immer mehr Politiker, die zwar die Stimmen der Wählerinnen und Wähler wollen, aber
nicht regieren. Die AfD und wichtige Teile der Linken verstehen sich ohnehin nur als Fundamentalopposition zum "herrschenden System". Doch nun befällt das Ohne-mich-Syndrom auch die klassischen Parteien. Im vergangenen Herbst outete sich
Christian Lindner von der FDP als einer, der aus welchem Grund auch immer lieber opponiert als mitregiert. Seither quält sich die SPD mit der offenbar furchtbaren Aussicht, wieder auf die Kabinettsbank im Bundestag zu ziehen. Die Linke der SPD hat noch nie so gern regiert, aber mittlerweile zögern auch viele nicht so linke Parteimitglieder, weil sie die Stimmenverluste der SPD auf das Regieren zurückführen.
Zweitens zeigt die SPD, wie ihr Mitgliederentscheid die Stimmenverhältnisse der Wahl ins Gegenteil verkehrt. Das Groko-Programm ist ziemlich sozialdemokratisch geraten, obwohl die CDU rund 60 Prozent mehr Stimmen bekommen hat als die SPD. Merke: Eine Partei, die über die Koalition abstimmen lässt, ist stärker. Würde das aber jede Partei machen, würden wir gar keine Koalition mehr bekommen. Denn der Kompromiss, eine Säule unseres Systems, wird bei solchen Abstimmungen diskreditiert. Das ist verhängnisvoll in einer Zeit, in der wegen der radikalen Ränder mit Drei- und Vier-Parteien-Koalitionen der Mitte zu rechnen ist.
Drittens sind Abstimmungen zur nachträglichen Interpretation eines Wahlergebnisses auch ein demokratisches Problem. Natürlich kann eine Partei die Entscheidung, ob sie koaliert, treffen, wie sie will.
Deshalb ist der SPD-Entscheid auch nicht verfassungswidrig. Dennoch prallen hier zwei demokratische Prinzipien aufeinander.
Bei der Abstimmung wird eine kleine Zahl von Menschen, von denen einige noch nicht mal bei der Bundestagswahl dabei waren, mehr entscheiden als die Gesamtheit der Wähler. Das Ergebnis der Bundestagswahl gibt der CDU und der SPD eine komfortable Mehrheit von 53 Prozent. Die Mehrheit der Wähler will nach Umfragen eine große Koalition. Was, wenn die SPD-Mitglieder sich diesem sehr klaren Willen widersetzen?
Der
Mitgliederentscheid rivalisiert zudem mit der Idee des Mandats in der repräsentativen Demokratie. Die SPD-Fraktion und ihr Parteitag haben ein Mandat bekommen – das ist so etwas wie der Stahlträger der repräsentativen Demokratie. Wer den abräumt, muss aufpassen, dass nicht der ganze Laden über ihm zusammenbricht.
Minderheit blockiert die Mehrheit Referenden können in der repräsentativen Demokratie ein zusätzliches Element sein. Es kann sinnvoll sein, dass auf kommunaler Ebene Bürgerinnen und Bürger über Fragen abstimmen, die sie in ihrem täglichen Leben angehen: Schulen, Straßen, womöglich auch Bahnhöfe und Flughäfen. Aber solche direkten Abstimmungen sollten Wahlergebnisse nicht nachträglich interpretieren oder korrigieren. Sonst können Minderheiten, die sonst nicht so zum Zuge kommen, ständig die Mehrheit blockieren.
Wozu das führt, würden wir in Deutschland sehen, wenn die SPD-Mitglieder die Groko ablehnten: in die permanente Regierungsbildung – und die Abwesenheit aller Macht. Dann wird weder entschieden noch regiert, noch irgendetwas durchgesetzt.
Damit aber macht sich die Demokratie als Ganzes angreifbar. Ich kann das Grummeln von deutschen Putin-FansVerehrern nicht vergessen, die ständig darüber klagen, dass bei uns ja nichts entschieden wird. Dass die Politikerinnen und Politiker keinen Plan haben und nicht zu Potte kommen. Dass ewig lange palavert wird. Aber bei Putin in Russland, tja, da sei das ganz anders.
Solche Reflexe sind alt. Deutschland kennt sie aus der Weimarer Zeit, als Extremisten den Reichstag als Schwatzbude denunzierten. Leider wird heute wieder so geredet. Die Demokratie ist ein kompliziertes, verwundbares System. Sie lebt von Wahlen und Abstimmungen. Doch an der Überdosis kann sie auch zugrunde gehen.