10 nach 8: Julia Friese über Außenseiter

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 

09.02.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Ein Dasein in Ballangst
 
Wer als Kind Außenseiter war, bleibt es meist sein Leben lang. Weil es eitel macht: Wer früher draußen war, will heute ganz besonders sein.
VON JULIA FRIESE

Die ständige Selbstüberwindung, normal zu sein, verändert Menschen. © Michael Rosner-Hyman/unsplash.com
 
Die ständige Selbstüberwindung, normal zu sein, verändert Menschen. © Michael Rosner-Hyman/unsplash.com
 
 

Mein erster Schritt auf das soziale Parkett endete auf der Terrasse. Da war eine Scheibe, dahinter waren alle und ich davor allein. Sie sahen mich an, denn sie wollten meine Tränen sehen. Vor dem Panoramaglas eines Kindergartens war ich drei Jahre alt, und älter bin ich nie geworden. Denn man verliert vielleicht seine Kindheit, diesen einen Moment aber habe ich immer im Gedächtnis behalten – den und diese Scheibe.

Außenseiter kann jeder werden, sagen Psychologen. Man soll das nicht persönlich nehmen, darf das nicht persönlich nehmen, aber persönlich, um ehrlich zu sein, hält die Außenseiterin das für großen Unfug. Es gibt ein Wort, das mich fasziniert, es heißt Psychomotorik. Außenseiter, da bin ich mir sicher, werden in jedem Fall diejenigen, deren Gedanken, Zweifel, Ängste so kraftvoll sind, dass sie sie bis in ihre letzte Faser durchdringen. Ängste lassen sie ungelenk gehen und unter Spannung stehen. Der Körper ist beständig genervt von dem, was in ihm vorgeht. 

Wer hingegen lässig ist, dessen Bewegungen fließen, der schwimmt, spritzt, macht andere nass. Wer außen vor ist, hält sich verspannt die Hände vor das Gesicht.
Es ist ein Leben in Ballangst.
Immer.

Der ganze Körper fleht:
Spielt mich bloß nicht an!
Die anderen versichern:
Keine Sorge, dich wählen wir eh nicht, du Letzte.
Der Körper gerät ins unentschiedene Straucheln:
Spielt doch bitte mit mir.
Ja?
Oder?
Will ich das wirklich?
Bitte lasst mich nicht ganz allein hier!
Oder vielleicht besser doch?

Man sendet Signale, die so verworren sind wie all die Sorgen, die man sich macht. Das dauert Anderen zu lange. Lässig schwimmen sie an einem vorbei. Man steht gegen den Strom, unter Strom. Ich habe mich nie gern bewegt. Alles, was mir an mir wichtig ist, liegt irgendwo diagonal hinter meinen Augen, ein wildes Gewässer, das mein Körper trägt.
Mach den Mund zu, hat meine Mutter immer gesagt.
Setz die Füße gerade!
Und stell dich ge-ra-de hin!

Wo ich auch war, war ich schief und nicht wirklich da. Habe mich weggeträumt. Bekam Unterricht gegen Panik – also gegen die vor dem Fußboden. Balance-Unterricht. Ich verstand das nicht, warum sollte ich mich freiwillig der Gefahr aussetzen, auf nur einem Bein zu stehen, wenn mir schon der Stand auf zwei Beinen als viel zu fragil erschien und wenn ich doch auch liegend alles erleben konnte, vor allem lesend, heimlich, nachts, im Bett.
Verschwinden in besseren Welten – Erwachsenenwelten.
Ruhe.

Und mit dem lauten Morgen kamen dann wieder die kleinen, die schnellen Menschen, Kinder, die über Bänke laufen, sich auch noch Rollen unter die Füße schnallen, meine Sachen aus dem Fenster werfen, an meinen Haaren ziehen, an meinem Rucksack reißen, beißen. Fangen und schubsen.
Ich war unpopulär.
Vor allem beim anderen Geschlecht.
In der Schule steht zwischen Küssen und Dissen allein der Sport.    
                 
Ich war 12, als ich mich entschied, in ihrer Welt bewusst die Andere zu sein. Meine kindliche Idee einer Erwachsenen trug unsportlichste Kostüme: Bleistiftrock, Blazer und Bluse.
Ich wünschte, man hätte mich gesiezt.
Der Spott, der nun kam, war kalkuliert, von mir inszeniert, ich nahm ihn hin wie Applaus.
Man bekommt die Kontrolle über die eigene Ungelenkigkeit, wenn man sie nur forciert. Je älter man wird, desto unwichtiger wird der Sport. Das Erwachsenenleben lässt sich auch sitzend absolvieren.

Dieser alberne Wunsch, cool zu sein

Wer also früh einen Mangel erlebt hat, ist später überzeugt, den Überfluss zu brauchen. Manchmal weiß ich nicht, ob ich für mich arbeite oder nur gegen die, die ich mal war, und eigentlich, wirklich, natürlich, noch immer bin.

Da ist dieser alberne Wunsch, cool zu sein, obwohl ich weiß, dass ich nach allen gängigen Definitionen des Wortes cool davon unfassbar weit entfernt bin. Nach wie vor bin ich unter Anderen niemals gelassen.
Es sei denn natürlich, ich trinke sehr viel Alkohol, klar, dann schwimmen auch meine Bewegungen.
Aber die Scham kommt immer.
Warum hat man sich den anderen zugemutet?
Man ist forever hochnotpeinlich, weil man sich forever hochnotpeinlich viel zu wichtig nimmt.

Außenseiter, das sind die mit den Außenspiegeln. Ständig schaut man zurück oder um sich, prüft, tastet, robbt auf dem Bauch durch die Stadt. Streckt die Hände aus. Ist Perfektionist. Die Beute von damals beutet sich heute selbst aus.

Letzte Etage. Stahlglasbau. Ich bin da, um mir Lob zur eigenen Leistung anzuhören: Es ist erarbeitet, denn du arbeitest viel an dir, eben weil du eben verinnerlicht hast: Unter all den anderen wirst du niemals sein, aber vielleicht – so zeigen es dir Film und Kunst – kannst du sie alle dominieren.
Jeder kämpft für sich allein?
Nein.
Jeder kämpft für mich allein.
So willst du es.
Ich mache alles, und alles ist mir peinlich.
Streber.

Nach dem Lob ist alles unvertraut. Derealisation. Zittern. Mit einer Hand an der Wand festhalten.
Draußen vor dem Stahlglasbau ist ein Stand mit Matrjoschka-Puppen.
Ich muss mich fast übergeben.
Der Mann hinter dem Matrjoschka-Stand findet das jetzt nicht so gut:
Ey, also Entschuldigung, junge Frau, aber was, warum brechen sie auf meine Auslegeware?
Ich gehe nicht weiter, ich starre ihn an.
Sie haben mich gelobt. Eingestellt. Sie haben nicht gewusst, dass ich eigentlich gar nicht mitspielen darf! Ich bin im Team. Und es tut mir so leid für alle. Ich schäme mich so. Bestimmt ist der Betrug jetzt schon aufgeflogen.
Und alle lachen, bestimmt lauter, als sie mich je gelobt haben.

Der Mann wischt mit der Hand vor meinem stummen, offenen Mund herum.
Geht es Ihnen noch gut?
Da ist die Scheibe – er ist mir egal.
Außenseiter sind außerdem eben auch scheiße arrogant. 

Es ist Silvester, ein Mann ruft mich an. Er ist schön und erfolgreich, also natürlich in der Schweiz. Wir mögen uns, weil wir beide immer auf der Terrasse standen und froren, und mit diesem bisschen reflektierter Kälte, die wir geben können, halten wir einander warm. Er sagt, er muss zu einem Essen mit 20 Unbekannten. Er sagt, er hat ein Buch dabei. Und erzählt mir die Geschichte von diesem Automobil-Ehepaar, das keine Kinder hat, aber immer mit Teddybären auswärts Essen geht. Das Paar füttert sie wie Kinder. Er sagt, er wäre gern an dem Punkt in seiner Karriere, an dem er das Buch als Tischpartner füttern könnte, aber da – das muss er einsehen – ist er eben noch nicht. Da ist noch Luft – also natürlich nach oben.

Und ich sage, du weißt doch, dass du lügst. Du weißt doch, dass du mit deinen über 30 Jahren einfach endlich gerne älter wärst als drei. Stell dich doch, Herrgott noch mal, nicht so an!
Die Wut auf andere ist immer die Wut auf uns selbst.
Kurz bevor wir wieder hinfallen.
Ich habe schon wieder einen Verband am Knie, sage ich ihm.
Und er sagt ganz leise: Immerhin bin ich dann stolz auf mich, wenn ich es später geschafft habe. Diese Ekstase nach drei freundlichen Worten eines Fremden!
Kennen die eigentlich alle?

Ich mache einen schmalen Mund, und da ist der Hörer, und all die Berge und Kilometer zwischen uns, aber ich kann sie riechen, seine uralten Tränen. Und ich sage ihm, es ist kurz vor zwölf, aber Erwachsenwerden hört ja im Grunde nie auf. Und: Anyone Can Do It.
 
Denn es stimmt eben doch: Jeder ist irgendwo Außenseiter. Und dort, wo wir Insider sind – Familie, Heimat, Identität –, da, nur da, wünschte man sich, man wäre doch außen vor.


Julia Friese (1,70m) ist Deutschlands größte Pop-Autorin, Musikkritikerin und Kolumnistin. Als Kind war sie kleiner. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich.
10 nach 8
 
Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht. 

Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen.