10 nach 8: Sabine Horst über Homosexualität in Mangas

 
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12.02.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Sie will, dass er will – mit ihm
 
Emanzipierter Porno oder Verfestigung alter Rollenklischees? Das japanische Anime-Genre Boys Love zeigt männliche Homoerotik, aber aus weiblicher Perspektive.
VON SABINE HORST

Titelbild des Anime "Embracing Love" von der japanischen Zeichnerin Youka Nitta © SuBLime/Youka Nitta
 
Titelbild des Anime "Embracing Love" von der japanischen Zeichnerin Youka Nitta © SuBLime/Youka Nitta
 
 

Ihre Liebe gleicht einer Zikade, die im Winter schlüpft: Sie ist zu einem frühen Tod verurteilt. Akizuki und Kusaka sind in die falsche Zeit geboren, Japan ächzt unter den Kriegen der frühen Meiji-Restauration. Die beiden gehören konkurrierenden Clans, feindlichen politischen Fraktionen an – sie sind wie Romeo und Julia, wie Tristan und Isolde. Ihr Doppelselbstmord im Wald könnte nicht herzzerreißender inszeniert sein: rotes Blut auf weißem Schnee, die schönen Gesichter mit den geschlossenen Augen in einem Bild vereint, fast meint man, ihre letzten Atemzüge zu spüren. So weit, so klassisch romantisch – wenn Akizuki und Kusaka nicht beide Männer wären.

Die Geschichte von der Winter Cicada ist eine Anime-Produktion von 2007. Sie gehört zu einer Sparte im Manga- und Anime-Markt, die auf ein weibliches Publikum zielt und fast ausschließlich von Autorinnen bestückt wird: Boys Love. Entstanden ist das Genre in den Siebzigern um eine Gruppe von Mangakünstlerinnen, die "Fabulous Forty-Niners", und die Zeitschrift June. Das war ziemlich genau zu der Zeit, als im Westen weibliche Star Trek-Fans auf die Idee kamen, Captain Kirk und Mister Spock in Leidenschaft zu vereinen, die Geburtsstunde der sogenannten Slash-Fanfiction. Man kann das durchaus als eine weltweite genderpolitische Revolution bezeichnen: In dieser neuen Volkskunst begannen Frauen, Männerbilder nach ihrer Fasson zu entwerfen. Sie formulierten, indem sie sich gegengeschlechtlich identifizierten, ihre Unzufriedenheit mit den weiblichen Rollenangeboten der Popkultur und kehrten einen klassischen Pornotopos – Männer schauten sich schließlich schon immer gern Frauen in horizontaler Action an – einfach um. Heute interessieren sich auch Gays, Genderqueere, Trans- und Intersexuelle, Menschen jeder denkbaren Orientierung für solche Geschichten, wie man an den Diskursen im Web ablesen kann.

Akizuki und Kusaka, die vor ihrem rührenden Liebestod in Winter Cicada heißen Analsex hatten, bewegen sich im Bereich "Ü 18", aber das Spektrum von Boys Love ist weit: Es umfasst Science-Fiction und Fantasy, Sport- und Musik-Animes, alltagsnahe romantische Komödien und ruppige Yakuza-Krimis, wobei die gleichgeschlechtliche Attraktion mal eher vor sich hin köcheln oder zu eruptivem, explizit dargestelltem Sex, sogar zu BDSM-Fantasien führen kann. Während homoerotische Fanliteratur bei uns immer noch im Off zirkuliert, bespielt Boys Love in Japan alle Medienkanäle. Dōjinshi, das sind inoffizielle, fanproduzierte Mangas, verfahren meist ähnlich wie die Fanfiction bei uns: Sie entlehnen ihre Figuren populären Serien, persiflieren sie, hieven den homoerotischen Subtext an die Oberfläche. Originalgeschichten befeuern den Buch-, Fernseh-, DVD- und Streaming-Markt, werden exportiert und übersetzt – finden sich zum Beispiel im Manga-Regal bei Hugendubel.

Kompliziert ist die Klassifikation – Boys Love ist nicht das einzige Label für diese homoerotischen Frauenfantasien. Man kann skrupulös die historische Genese der verschiedenen Subgenres aufrollen, wie es die Kulturwissenschaftler in dem sehr lesenswerten Aufsatzband Boys Love Manga and Beyond tun. Aber für einen ersten Streifzug durch die unzähligen Beiträge im Internet nützt schon der Hinweis, dass "Shōnen Ai" Storys bezeichnet, in denen Emotionen und Beziehungsmanagement im Vordergrund stehen, während der schärfere Stoff unter "Yaoi" läuft.

Die ersten Boys-Love-Mangas orientierten sich an der europäischen Literatur des Ästhetizismus und der Décadence; ihre historischen Romanzen verliefen ungefähr so verzweifelt wie das Leben von Oscar Wilde. Das Motiv des tragischen Homosexuellen, der verbotenen Liebe wirkt immer noch im Untergrund des Genres, wie man an Winter Cicada sehen kann (ein Schiff, das Akizukis Leute entern, trägt den Namen Stonewall). Aber bald kamen andere Bild- und Motivwelten ins Spiel. Beeinflusst von Cyberpunk-Filmen wie Blade Runner und Ghost in the Shell entfaltete etwa der Videoklassiker Ai no Kusabi – Anfang der Neunziger nach einer Light-Novel-Serie gedreht – ein irrsinniges futuristisches Melodram um einen Ghettojungen, der als Sexsklave missbraucht wird und in einer komplizierten Beziehung zu seinem Ausbeuter, dem Angehörigen einer genetisch aufgerüsteten "Superrasse", feststeckt.

Inzwischen hat sich die Lage entspannt – im Gender-Chaos, das der ohnehin explodierende Manga- und Anime-Markt für Mädchen mit seinen Crossdresserinnen und fighting girls auslöste. In No. 6, einer Science-Fiction-Serie von 2011, ist die wachsende Liebe zwischen den männlichen Helden elegant eingebaut in die Action, die Revolte gegen ein autoritäres Regime. Und die öffentliche Romanze zweier Eiskunstläufer in dem aktuellen Original-Anime Yuri!!! on Ice ist so charmant präsentiert, dass die Show in der Schule die Ehe für alle bewerben könnte.

Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass Boys-Love-Geschichten, in denen die Männer stets überirdisch schön oder umwerfend niedlich sind und sich selbst selten als homosexuell bezeichnen, die Realität schwuler Beziehungen abbilden oder ernsthaft LGBT-Politik betreiben würden. In der japanischen Gay Community etwa gab es heftige Debatten um das Genre – es wurde als eine Art fiktionaler Missbrauch kritisiert. Feministinnen wiederum witterten hinter den all-male-Storys weibliche Misogynie, Angst vor der eigenen Sexualität.

Angst ist vielleicht im Spiel, aber sie könnte sich auch ganz rational auf die Lebenssituation von Frauen in heteronormativen Gesellschaften beziehen. So steigt in Japan zwar wie in allen Industrieländern das Alter, in dem Frauen Kinder bekommen. Doch es ist schwer für sie, Familie und Beruf zu vereinbaren: In der Altersgruppe der Endzwanziger sinkt der Anteil der arbeitenden Frauen drastisch, um in den Mittvierzigern wieder nach oben zu steigen. Kein Wunder, dass Mädchen an Erzählungen andocken, die das Reizthema Reproduktion nicht auf der Agenda haben. Den Gedanken, dass regelrechte Heiratspanik herrscht, legt die Genderbender-Serie Love Stage!! nahe: Der verwirrend weiblich wirkende Schüler Izumi hat als Kleinkind ein Mädchen in einem Werbefilm für ein Hochzeitsmagazin gespielt – und sich in dem Moment ins Höschen gepinkelt, als der Brautstrauß auf ihn zuflog. Jahre später trifft er seinen Co-Darsteller während einer Neuauflage des Clips wieder. Die beiden finden sich in einer Beziehung auf Augenhöhe – zuvor muss aber die drohende Fixierung Izumis auf die Mädchenrolle überwunden werden.

"Seme" und "Uke", der dominante und der unterwürfige Partner

Apropos Augenhöhe. Auf den ersten Blick sieht es nicht so aus, als wäre Boys Love ein per se emanzipatorisches Genre. Alte Geschlechterklischees, könnte man denken, stecken schon in den Paarkonstellationen, die üblicherweise Seme und Uke unterscheiden: dominante und unterwürfige Partner. Gern wird ein hochgewachsener, erfahrener älterer Mann mit einem jungenhaften kleineren kombiniert, oft erscheint der Seme als Stalker, zudringlich und übergriffig, auch sozial privilegiert. Ein Muster, das ungefähr dem zu entsprechen scheint, das wir aus Twilight oder Fifty Shades of Grey kennen. Tatsächlich ist diese Struktur in den Boys-Love-Geschichten viel poröser als in den westlichen Hetero-Liebesfilmen – die unterschiedlichen Zuschreibungen können so wild kombiniert werden, dass sie nur noch wie persönliche Marotten wirken. In Junjou Romantica wird die Figur des zentralen Seme – ein preisgekrönter Romancier, der sich in einen Studenten verliebt hat – beständig ironisiert: Akihiko verfasst nebenher selbst Boys-Love-Storys, kuschelt mit Plüschbären – eines dieser niedlichen Accessoires, ohne die in Mädchen-Mangas und -Animes nichts geht – und ist emotional bedürftiger als sein Uke. Am Ende der zweiten Staffel kann Akihikos Vater den unscheinbaren Jungen an der Seite seines berühmten Sohnes akzeptieren, weil er "in der Lage ist, Akihiko anzuschreien". Kurz: Der Kleine ist taff.

Boys Love, könnte man also sagen, liefert keine Orientierung, keine Maßstäbe für gelungene oder sogenannte gesunde Beziehungen, sondern lädt zur spielerischen Reflexion über Intimität und sexuelle Selbstbestimmung ein. Identifikation und Begehren – natürlich schätzen Yaoi-Fans den Schmuddelfaktor: nackte Kerle in interessanten Stellungen – fallen hier in eins. Ebenso wenig lässt sich der Sex vom Gefühl trennen; eine Kleenex-Box ist immer empfehlenswert. Realismus ist vor diesem Hintergrund geradezu eine Kontraindikation. Die extreme Künstlichkeit des gezeichneten Bilds, das in jedem Moment neu erfunden wird, beflügelt die Fantasie, macht das Genre auch visuell queer und fluid. Das Runde und das Eckige, das Weiche und das Harte, die Pastellfarben eines Mädchenzimmers und der kalte Glanz einer Schwertklinge versöhnen sich, auf scharfen Wangenknochen breitet sich zarte Röte aus, Haare fallen malerisch in die Augen oder flattern im Wind. Körper drehen, winden, dehnen sich, heben ab. Und, hey, die stilisierten Sklavenspiele in dem fast dreißig Jahre alten Ai no Kusabi-Anime wirken heute noch spannender als die Designer-Erotik in Fifty Shades.

Die Künstlichkeit ist auch der Grund, warum die erotischen Darstellungen in Mangas und Animes nicht justiziabel sind – das japanische Recht ist zwar nicht lax, hat aber einen eigenen Gradmesser für Obszönität, es fokussiert auf eher technische Details wie die Präsentation von Geschlechtsteilen, Schamhaaren, penetrativem Sex, daher die Pixel in Hardcore-Titeln. Seit ein paar Jahren verbreitet sich allerdings in Japan die Vorstellung, Phänomene wie Boys Love leisteten einer "Geschlechterverwirrung" Vorschub. Parallel fordern internationale Organisationen wie die Unesco eine stärkere Reglementierung der Manga- und Anime-Industrie hinsichtlich jugendgefährdender Inhalte, eine Angleichung an die Standards einiger europäischer Länder.

Es wäre jedoch schade, wenn der Boys-Love-Sumpf trockengelegt würde. Weil Frauenfantasien so selten Massenappeal entfalten. Und weil es gerade in der aktuell aufgeheizten Stimmung etwas Befreiendes haben kann, sich einem alternativen Universum anzuvertrauen, in dem das duale Geschlechtermodell außer Kraft gesetzt ist und erotische Bedürfnisse, Wünsche, Grenzen immer neu verhandelt werden müssen. "Ist das jetzt wirklich okay für dich?", fragt ganz am Anfang ein Mann in Sensitive Pornograph, bevor er seinem Liebhaber zwischen die Beine geht. Das kann man doch einfach nur vorbildlich nennen.


Sabine Horst lebt in Frankfurt, hat als Kulturjournalistin unter anderem für die "Frankfurter Rundschau" gearbeitet und ist seit 2002 Redakteurin bei "epd Film". Nebenbei schreibt sie für DIE ZEIT, "chrismon.de" oder den "Tagesspiegel" über Kino, Fernsehen und alltagskulturelle Themen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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