10 nach 8: Julia Zange über die Insel Poel

 
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16.02.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Pö, was?
 
Vergessene Orten Orten wohnt etwas Magisches inne. Wie Poel, eine kleine Insel an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns, wo sich auf 36 Quadratkilometern Geschichte ballt.
VON JULIA ZANGE

Ein Strand der Insel Poel © Johannes Simon/Getty Images
 
Ein Strand der Insel Poel © Johannes Simon/Getty Images
 
 

Mein Kopf ist ganz leer heute. Wie soll man aus so einer Leere etwas herausfischen? Weiter unten im Bauch wäre noch etwas. Aber das ist zu weit weg, als dass mein blanker Verstand darauf Zugriff hätte. Ich packe ein paar Sachen in einen Rucksack.

An der Küste Mecklenburg-Vorpommerns liegt eine kleine Insel namens Poel. Ich hatte sie zufällig im Internet entdeckt, als ich einen passenden realen Ort für ein neues Drehbuch suchte, an dem ich arbeite. Noch nie hatte ich davon gehört oder gelesen. 36 Quadratkilometer, ein paar Dörfer, Rapsfelder, umspült von der Ostsee und erreichbar über einen schmalen Damm von Wismar aus. Es gibt dort auch ein Timmendorf und ein Niendorf. Allerdings die ostdeutschen Varianten. Der Inselname Poel leitet sich angeblich ab vom Gott des Lichts (altnordisch: Phol) oder vom "flachen Land" (slawisch: Polje). 

Vakuum im Kopf

In den folgenden Wochen fragte ich immer wieder Leute, ob sie schon mal von Poel gehört hatten. Aber niemand war jemals dort gewesen. "Pö, was?" Existiert es denn wirklich? Vergessene Orte scheinen eine magische Anziehungskraft auf mich zu haben.

Vom Regionalzug aus buche ich ein Hotel. Langsam taut auch das Eis in meinem Kopf wieder. Kahle Bäume fliegen vorbei, Hochwasser in Wiesen und Furchen. Es sieht eher nach März als nach Januar aus.

 "Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt." Immer wieder dieser Satz von Gertrude Stein. Ich merke: mein eigener innerer Hund war gar nicht verschwunden, er hatte nur eine Armlänge entfernt auf mich gewartet. Wir sind uns noch etwas fremd. Er ist groß wie ein Drache, oft unbeweglich, mit vereisten Schuppen. Wenn er befindet, dass die Zeiten wieder unsicher werden, fliegt er zurück in sein Wasserloch. Vielleicht ist das dann das Vakuum in meinem Kopf? Eine leere eisige Drachenhöhle, deren Bewohner nur von Zeit zu Zeit vorbeischaut.

Das Schicksal besiegelt

Als ich in Gollwitz ankomme, ist es schon dunkel. Mein Hotel liegt gegenüber vom zugefrorenen Dorfteich, umwuchert von blassen Halmen in Eiskristallmänteln. Ich lege den Kopf in den Nacken. Am Himmel sieht man jeden Stern ganz klar und ganz für sich. Die Luft riecht frisch, frostig und ein bisschen nach muffigen Meeresalgen.

Im Restaurant 5 Eulen sitzen ein paar Einheimische und schauen Tierdokumentationen im TV. Das Inselhotel ist ein klassisches Nach-Wende-Investitionsobjekt. Nicht lieblos, klassisch provinzielle Postmoderne. In den Vitrinen liegt Swarowski-Schmuck und Bademode der letzten Saison. Nur der gemusterte Teppichboden mit den gelben und grünen Wirbeln schmerzt in den Augen. Die Rezeptionsfrau betont mehrfach, dass sie eigentlich nicht an der Rezeption arbeite. Sie sagt es zu ihrem jungen Kollegen, unüberhörbar für alle braven Gäste in der Lobby: "Wir bleiben in der Suppenküche, ne?!" Als ob ihr Schicksal besiegelt sei. Nach jedem Satz, den sie an einen Gast richtet, schließt sie seinen Namen an. Ich habe noch nie so oft in so kurzer Zeit meinen Nachnamen gehört.

Hier war der Gott des Lichtes zugange

Als ich am nächsten Morgen über den gefrorenen Strand laufe, glaube ich felsenfest, dass der Gott des Lichtes hier zugange war. Der Himmel strahlt wie in mehreren Dimensionen Aquamarin. Durch eine Allee von Bäumen verläuft ein schmaler Pfad direkt an der Steilküste. Nicht so dramatisch wie auf Rügen, aber ziemlich schön. Sandig gelbe Wände und Kiesabschnitte wechseln mit Sandstrand. Der Saum des Meeres liegt unter einer dünnen Schicht Eis, bewegt sich aber noch träge. Nach ein paar Kilometern blitzen wieder Häuser auf der Landseite auf: der Schwarze Busch (plattdeutsch: Swatt Busch) erhielt seinen Namen von den 300-jährigen Eichen, die hinter dem weitläufigen Strand ein Waldstück bilden. Kurz dahinter befindet sich die Gedenkstätte für die gesunkene Kap Arkona.

Überhaupt scheint sich auf diesen 36 Quadratkilometern Geschichte zu komprimieren. Wahrscheinlich liegt es an der strategisch guten Lage, dass Poel immer hart umkämpft wurde. Die Germanen verjagten die Slawen. Im Dreißigjährigen Krieg okkupierten die Schweden das Eiland, das 1803 jedoch wieder unter deutsche Flagge fiel. Zuletzt nutzte die Volksarmee der DDR die pittoreske Landschaft, um dort ihre Horchposten zu stationieren. Erst seit dem Fall der Mauer durfte die Insel wieder zu sich selbst zurückfinden, in einen ruhigen Rhythmus zwischen Sommertouristen, Landwirtschaft und Vogelbeobachtung. Neben Poel schwimmen nämlich noch zwei kleine Schwester-Inseln: Langenwerder und die Insel Walfisch (heißt wirklich so!), die beide als Naturschutzgebiete ausgewiesen sind und wo sich Watt- und Wasservögel ungestört tummeln dürfen.

Eine verhungerte Hyäne

Vollkommen durchgefroren laufe ich weiter an der Landstraße entlang nach Kirchdorf. Die massive Backsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert mit dem roten, spitzen Dach schaut mahnend über die Insel. Im Hafen schaukeln Boote und Segelschiffe im Winterschlaf. Der Ort ist fast menschenleer. Eine kleine Apotheke, der Supermarkt und ein Souvenir-Laden haben noch geöffnet. Der Besitzer des Souvenir-Ladens beäugt mich misstrauisch, als ich nach einem Bus Richtung Gollwitz frage. Keine Ahnung. Ein Kunde mischt sich ein: Wenn er mit dem Auto da wäre, würde er mich schnell rüberfahren. Ich winke ab. Schließlich finde ich eine Bushaltestelle und steige ein, zusammen mit ein paar Dutzend Schulkindern, die alle ganz rosig aussehen von der guten Inselluft. Ein letztes Mal laufe ich zum Strand, unter meinen Füßen kracht das Eis.

Im Grunde fühlt sich eine leere Drachenhöhle so unerträglich an, dass man gerne eine andere Seele zum Tee einlädt. Die anderen fühlten sich dann überaus verstanden von mir. Dabei mochte ich sie weder, noch verstand ich sie. Ich ließ sie nur für eine Weile in meine Drachenhöhle, denn ich hatte ja vergessen, dass ihre Bewohnerin überhaupt existierte. Und besser ein tibetischer Uhu oder eine verhungerte Hyäne zu Gast als das Eis. Der Schmerz anderer Menschen erschien mir immer erträglicher als mein eigener. Aber wenn man den eigenen Schmerz aushält, dann kann man vielleicht wahrhaftig jemand anderem begegnen. Und dann findet auch der Drache wieder seinen wohlverdienten Platz. Vielleicht macht er demnächst mal ein kleines Feuer. Ganz für sich.

Das Meer liegt jetzt schwarzgrün und satt unter dem Horizont, wo die sinkende Sonne noch einen Streifen roten Lichts hinterlassen hat. Faszinierend ist aber weniger der Himmel, als das, was mit der Umgebung passiert. Ein ganz sanftes Apricot liegt über den Gräsern und auf meiner Haut. Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich keine Jacke anhabe. Ich zwinkere dem germanischen Gott einmal zu und renne zurück zum Hotel.

Die Recherche geht dann doch erst im Sommer weiter. Aber: Poel existiert! Schauen Sie es sich doch mal an!


Julia Zange, Jahrgang 1983, lebt und arbeitet in Berlin als Autorin und Schauspielerin. Gerade schreibt sie an einem Kurzgeschichtenband aus der Hundeperspektive und ist Teil des Web-Serien-Projekts "Translantics". 2016 erscheint der Kinofilm "Mein Bruder Robert ist ein Idiot", in dem sie die Hauptrolle spielt. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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