Viele Menschen in Deutschland sind wütend. Die einen über die Fremden. Die anderen über die Einheimischen. Die einen schreien: "Volksverräter!" Die anderen schreien: "Rassisten!" Es geschieht in
Cottbus, es geschieht in Kandel, es geschieht auch in diesem Medium. Beide Seiten schaukeln sich hoch. Sie erhitzen sich aneinander. Es gibt kaum ein Gespräch ohne Zornesfalten und (Selbst-)Mitleidstränen. Argumente sind rar. Es herrscht die Diktatur der Gefühle.
Den einen kann man Statistik über Statistik entgegenhalten, dass die Kriminalität seit 2015 nicht gestiegen sei, dass Öffnung einer Gesellschaft nicht schaden muss, dass man in Zeiten der Globalisierung lebt und die deutsche und europäische Politik seit 2015 durchaus versucht, ihre Steuerungsfähigkeit zurückzugewinnen. Es hilft nichts. Jedes Verbrechen eines Migranten oder Flüchtlings wird als Beweis dafür genommen, dass alle Migranten und Flüchtlinge gefährlich seien und Deutschland dem Untergang entgegengehe.
Den anderen kann man sagen, dass Deutschland, die Deutschen, ihre Sache doch recht gut machen, Zahlen an der Hand kann man Beweis über Beweis führen, dass sich das Land im europäischen Vergleich so schlecht nicht schlägt. Es hilft nichts. Deutschland bleibt für diese Leute ein Land, das bevölkert ist von Alltagsrassisten. Jede rechtsstaatlich begründete Abschiebung eines Asylbewerbers gilt ihnen als Beweis für die rassistische Mitleidslosigkeit Deutschlands.
Beide Seiten schreien sich an und landen genau dort, wo sie am Anfang waren, bei ihren gefühlten Gewissheiten. Dabei wird immerzu das Ich ins Feld geführt. "Ich habe das erlebt … ich fühle das … ich habe das gesehen …" Das Ich gilt als unwiderlegbarer Beweis. Das Ich hat immer recht, überall und jederzeit.
Und wo das Gefühl auf diese Weise unumschränkt herrscht, da stirbt das Politische. Es gibt keinen Kontext, es gibt keine Geschichte. So wird etwa ein ungarischer Flüchtling, der 1956 vor der sowjetischen Unterdrückungsmaschine nach Westeuropa floh, gleichgesetzt mit einem Flüchtling, der aus dem Nahen Osten vor Krieg flieht. Flüchtling ist Flüchtling. 1956 wie 2015. Das ist richtig. Wer aber 1956 mitten im Kalten Krieg floh, der war mit anderen Bildern behaftet als jemand, der 2015 aus Syrien über die Türkei nach Deutschland floh.
Wahrnehmung ist kontextgebunden, sie ist geprägt vom historischen Augenblick. Am Münchner Bahnhof bekamen Flüchtlingskinder im Sommer 2015 Teddybären gereicht. Sie waren in den Augen vieler Deutscher erbarmungswürdige Menschen, getroffen von einem kaum verstandenen Konflikt und im deutschen politischen Koordinatensystem nicht zu verorten. Die ungarischen Flüchtlinge aus dem Jahr 1956 waren heldenhafte Freiheitskämpfer gegen eine kommunistische Diktatur, mit der man in Todfeindschaft verbunden war. Sie waren eindeutig einem politischen Lager zuzuordnen.
Um die vielfach zitierte Genfer Flüchtlingskonvention wird ohne jeden Kontext gestritten. Die einen möchten sie am liebsten abschaffen, für die anderen ist es ein in toto unantastbares Dokument. Ein Glaubensstreit ist darüber entbrannt, der eine überfällige Debatte blockiert: die Debatte um die Reform der Genfer Flüchtlingskonvention, um ihre Anpassung an die Gegenwart.
All das verschwindet, weil das Gefühl keine Geschichte kennt. Ja, es löscht Geschichte aus. Was geschieht, erscheint als unvermeidlich. Was sich ereignet, ist alternativlos. Die einzige Möglichkeit, die es noch gibt: Der andere soll verschwinden, der Fremde, der Rassist, der Volksverräter. Weg damit. Aus die Maus.
Deutschland soll frei sein, frei von Rassisten, frei von Volksverrätern. Deutschland wird ein Paradies – wenn der andere mal weg ist.