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Am östlichen Rand von Berlin, in Marzahn, stehen die Plattenbauten: Elfgeschosser, Achtzehngeschosser, Fünfundzwanziggeschosser. Am Fuß eines solchen Hochhauses liegt unser Kosmetikstudio. Hier arbeite ich als Fußpflegerin. Als ich vor knapp drei Jahren anfing, gehörte Herr Paulke zu meinen ersten Kunden. Während der ersten Behandlung hatte er mich lachend gefragt: „Wissense, wo se hier sind? Uff de Scheiße von Berlin. Dit warn früher allet Rieselfelder, und denn hamse Hochhäuser hinjeklotzt. Wo de Erde uffjebuddelt is, könnset noch riechen.“ Herr Paulke war Erstbezügler, seit 1983 wohnte er hier, ein Marzahner Ureinwohner, ein Prolet, ein Greis nun, mit Anstand im Leib, fatalistischem Witz und Demut gegenüber den Massakrierungen des Alters. Herr Paulke nahm sich einfach nicht so wichtig. In seinem Gesicht herrschte ein asymmetrisches Durcheinander: schielende Augen, Warzen, Altersflecken, der Zahnersatz krumm und schief, ein Sammelsurium aus verschiedenen Zeitaltern. Die Knie total kaputt. Arthrose. Die Füße hatten mir beim Erstkontakt, als ich sie ins Wasser stellte und wusch, einen Schrecken eingejagt. Bald mochte ich sie. Sie waren rundum geschwollen, die Haut braun verfärbt und schuppig, von tausend lilablauen, wirr verlaufenden Adern zerfurcht. Wie verwitterte Steine. Herr Paulke hat bei Autotrans gearbeitet, der größten Spedition der DDR. Er hat sein Leben lang geschleppt, Schränke, Kühltruhen, Klaviere. Sein Kombinat hat nicht bloß poplige Wohnungsumzüge gemacht, es hat ganze Betriebe von A nach B verpflanzt, Orchester auf Gastspiele ins Ausland begleitet. Das, erzählte Herr Paulke, sei schön gewesen. Ab und zu hätten er und seine Kollegen umsonst ins Konzert gedurft, bevor sie den ganzen Kram wieder abtrugen, auf LKWs luden und in die Heimat transportierten. Als Herr Paulke nicht mehr schleppen konnte, ließ er sich in den Kundendienst versetzen, Ortsbegehungen, Vorabsprachen, Kalkulationen. Als auch das zu schwer wurde, wollte er ins Büro wechseln, was man ihm verwehrte. Herr Paulke nahm finanzielle Einbußen in Kauf und ging mit siebenundfünfzig Jahren in den Vorruhestand. 1989 kam die Wende und für Herrn Paulke der Lymphknotenkrebs, unterhalb des rechten Kiefers. Er wurde operiert und bestrahlt. Überpünktlich, etwas abgemagert Als der Krebs unter Kontrolle gebracht war, fingen Herr und Frau Paulke das Reisen an, jedes Jahr zweimal, und Herr Paulke sagte im Rückblick: „Dit war jut, wie wa dit noch abjegriffen haben.“ Er wusste von den Fjorden Norwegens zu berichten, von den Palmen im Tessin, von den Pubs in Dublin. Das Reisen war, als ich Herrn Paulke kennenlernte, schon lange nicht mehr möglich. Sein Aktionsradius verkleinerte sich zusehends. Jedes Mal, wenn ich Herrn Paulke wiedersah, war er an einer anderen Stelle reparaturbedürftig. Einmal erzählte er, man habe ihm auf der rechten Seite „sone Art Schlauch einjebaut, vom Hals bis inne Leiste, der rejuliert irjendwat und muss ab und zu nachjestellt werden“. Genau wusste er es nicht; er vertraute den Ärzten. Für jeden seiner Arztbesuche musste Frau Paulke telefonisch den Krankentransport bestellen, häufig ging es in Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn, „ins UKB“, sagte er, manchmal aus Versehen „UKW“. Nur die Physiotherapeutin kam ins Haus, zweimal die Woche für zwanzig Minuten. „Die looft mit mir de Treppen ruff und runta, Kniebeujen muss ick machen, uffn Rücken liejen und radfahrn.“ Ich staunte über die Übungen. „Jaja“, sagte Herr Paulke ein bisschen stolz, „allet sone Dinga!“
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