Eine Rückkehr, viele Rückkehren Einen Ort zu besuchen, an dem man früher einmal gelebt habt, verändert vieles. Erfahrungen, Gerüche, Gedanken überlagern die Gegenwart. Man sollte nie damit aufhören. VON SABINE SCHOLL |
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| | Kommen, gehen, kommen, gehen: ein Schiffsanleger in Chicago © Steven Wang/unsplash.com |
Als würde ich nach einem Beinbruch versuchen, erste Schritte zu gehen: Wackelig und staunend bewege ich mich, als ich meinen ehemaligen Wohnort Chicago erreiche. Immerhin habe ich es nach mühseligen Prozeduren in dieses Land hinein geschafft, das mittlerweile zur Festung geworden ist. Reisende werden durch zahlreiche Barrieren geschleust, x-mal durchleuchtet, ihre Dokumente und Körper geprüft, sie müssen Kleidungsstücke aus- und anziehen, Taschen aus- und einpacken, Kommandos befolgen, Abstand wahren, höflich bleiben, im richtigen Winkel in Kameras starren, die Hände über den Kopf heben. Ihre Fingerabdrücke werden digitalisiert und eine Datenflut wird produziert, um diese Informationen irgendwo mit irgendetwas abzugleichen, das für immer unzugänglich bleibt. Und die Menschen bleiben verdächtig bis zu jenem Moment, an dem der letzte Beamte in diesem Parcours ihnen die Einreise erlaubt.
Früher bin ich mehrmals im Jahr zwischen USA und Europa hin- und hergeflogen, kannte die Prozeduren auswendig. Da waren sie weniger strikt. Jetzt, zehn Jahre später, erkenne ich nach dem ruppigen Empfang fast nichts wieder. Nicht das Flughafenterminal, nicht die Zufahrtstraßen. Die Häuser in meiner alten neighbourhood haben inzwischen hohe Sicherheitszäune und dicke Schlösser. Sogar das Haus meiner Freundin ist mir fremd. Seit die Gegend sicherer geworden ist, wurden Fenster in die Front gefügt. Nur der vertraute Empfang und das Miteinanderreden lassen mich neuerlich heimisch fühlen. Alles andere hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Meine Erinnerung an Chicago war längst Fiktion geworden und stimmt mit dem vor Ort Gefundenen nicht überein.
Jetzt erinnert nur wenig an die Straßenecke, wo wir als Familie wohnten, weil alle Gebäude und die daran anschließenden entweder abgerissen oder umgebaut wurden. Nur den Bettdeckenladen und den Dollarstore gibt es noch. Der Mann an der Kasse des Billiggeschäfts ist gealtert, aber weiterhin freundlich. Ich schaue die Fenster hoch und spüre seltsamerweise nichts. Erwarte, dass mein früherer Nachbar mich sieht und hereinbittet. Doch nichts geschieht. Der Nachbar hat nach einer paranoiden Episode die Malerei aufgegeben und sogar seine Frau verlassen, habe ich gehört.
Der Block scheint völlig im Umbruch zu sein. Läden stehen leer. Die Fenster einiger Restaurants sind vernagelt, pleitegegangen. Ich gehe weiter, erinnere mich an die Wege und Straßen nur halb, verlaufe mich, nehme den falschen Bus. Erst nach einigen Tagen stellt sich eine gewisse Mechanik des Navigierens ein. Ich absolviere die Stadt, nehme jedoch nur eingeschränkt teil. Ich klappere Stationen ab. Ich bin nicht mehr von hier. Und die Enttäuschung darüber ist größer, als würde ich an einem völlig unbekannten Ort ankommen und feststellen, dass er mir nicht gefällt. Dann, endlich am Seeufer angekommen, geht mein Blick ins Weite und ich empfinde Erleichterung. Diesen Gegensatz zwischen Skyline und Mittelmeerfeeling habe ich immer geliebt. Und mit einem Mal springen mir Dinge, die vertraut erscheinen, wahllos ins Gehirn. Die hellblauen Streifen am Polizeiauto. Der chemische Geruch, der aus einer Wäscherei strömt und mich durchfährt. Die Aufregung im Buchladen, als ich innerhalb von zwei Minuten fünf Bücher finde, die ich sofort mitnehmen will. Eine Seite in mir wird angerührt, die ich trotzdem noch bin.
Natürlich ist Sich-Heimisch-Fühlen kein freischwebender Zustand, sondern an Menschen, Situationen und Lebenschancen gebunden. Wo ich gemocht und anerkannt werde, ohne Vorbehalte respektiert, wie im Haus der Freundin in Chicago, erlebe ich Vertrautheit. Aber mittlerweile habe ich in dieser Stadt keine Lebensbasis mehr und deshalb ist die Freude des Wiedersehens nur halb. Ich begreife: Wonach ich mich gesehnt habe, das war die Unbeschwertheit und Zuversicht, die damals möglich war an diesem Ort. Mit den Kindern. Auch sie sind inzwischen andere. Meine Freundin zeigt mir Fotos von Menschen, die ich als Kleinkinder kennengelernt hatte und nach unserem Umzug aus den Augen verlor. Wesley, der nun als Model arbeitet; Emilio, jetzt ein blonder, langhaariger Nerd; Sarah ein rebellisches Surfergirl; Megan, ein zarte junge Frau, die Fotografie studiert.
Der Prozess des Ankommens ist endlos
Diese Rückkehr nach Chicago war nicht die einzige, die ich vergangenes Jahr unternahm. Im August davor reiste ich nach Portugal, wo ich ebenfalls früher gearbeitet und gelebt hatte. Damals musste man die Besonderheiten des Landes noch selbst entdecken und für sich nutzen lernen. Die Stadt war unpraktisch, das Land rückständig, verglichen mit Mitteleuropa. Mittlerweile ist in Lissabon das Beste des Besten vorsortiert und wird den Touristen wie in einem Concept Store dargeboten. Da ich mich ohnehin nach Verlangsamung sehnte, klinkte ich mich rasch ein und durfte mich willkommen fühlen. Die Prozesse des Wiedererkennens geschahen als Echos von Worten, die ich allmählich wieder verstand. Mit der Sprache traten die Dinge in Erscheinung und umgekehrt mit den Erscheinungen die Worte. Plötzlich lag mir der Name einer Speise auf der Zunge, die ich längst vergessen hatte und sofort bestellte, um ihrem Geschmack nachzuspüren. Oder ich erblickte an der Bar eine Flasche, und das Wort amendoa fiel mir ein, Bittermandellikör, den man eisgekühlt trinkt.
Zurückzukehren kann also gar nicht bedeuten, dasselbe vorzufinden. Das würde ja heißen, sich zurückzuentwickeln. Eine Rückkehr könnte gelingen, indem man Erscheinungen aufspürt, die sich verändert haben, und diese mit solchen verbindet, die gleichgeblieben sind, um in diesem Zusammenspiel Neues herauszubilden. In einer tatsächlichen Wieder-Belebung, nicht einer Wieder-Holung, könnten die Stadt, das Land im Sinne einer praktischen Aneignung des Raumes ein weiteres Mal handhabbar werden. Es geht deshalb gar nicht um eine Rückkehr, sondern um verschiedene Möglichkeiten des Ankommens. Und natürlich ist dieser Prozess endlos.
Denn die Rückkehr von der Rückkehr gestaltet sich ebenfalls nicht problemlos. Das habe ich mehrmals erlebt, wenn ich nach einem längeren und erfahrungsreichen Auslandsaufenthalt in Wien oder Berlin angekommen war. Die vor Ort Gebliebenen sind an diesen Erlebnissen nur mäßig interessiert. Der Zurückkehrende wird nicht als bereichernd wahrgenommen, sondern als Mensch, der weniger geworden ist, weil ihm die Dauer fehlt, das Verstricktsein in Alltäglichkeiten, in dem die Gebliebenen verweilten und die ein Gewebe von Anwesenheit erzeugten. Der Zurückgekehrte kann die Gebliebenen nie mehr einholen, hat Lücken in der Kontinuität. Und nicht jeder ist Odysseus, der nach seiner Heimkehr kurzerhand alles tötet und zerstört, was ihn daran erinnert, dass er zwanzig Jahre lang verschwunden war. Er bringt den Krieg nach Hause. Wir wissen ja nicht, wie es dem Helden danach erging. Vielleicht begann er, sich irgendwann zu langweilen? Vielleicht war er das ständige Bewegen mittlerweile eher gewohnt als das Bleiben?
Ich muss zugeben, dass ich nach einer Woche in Chicago begann, abermals Fühler auszustrecken und zu überlegen, an welcher Universität ich eventuell ein weiteres Gastsemester etc. ... Eine weitere Fiktion, nun, da Aufenthalts- und Arbeitsvisa noch komplizierter zu erlangen sind als je zuvor. Und meine Erkundungen zur Rückkehr zielen auch auf einen allzu selbstverständlichen Umgang mit diesem Begriff, der heutzutage unwillkommenen Gästen entgegen geschleudert wird, die man abweist. Als ob die vor Krieg und Verfolgung Geflüchteten oder die von ihren Familien mit großen Hoffnungen auf den Weg Geschickten sich so einfach an dem Ort wieder einleben könnten, von dem sie einmal aufgebrochen sind! Sabine Scholl beschäftigt sich in ihren Essays, z.B. "Nicht ganz dicht" mit transnationalen Prozessen; in literarischen Werken beschreibt sie das Zusammentreffen verschiedener Sprachen und Kulturen. Ihr neuer Roman "Die Gesetze des Dschungels" schildert eine Familie zwischen Österreich, London, Sri Lanka und basiert auf wahren Gegebenheiten. Das Buch erscheint im Frühjahr 2018. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
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