Das Radio ist gelebte Solidarität Sollte die Schweizer No-Billag-Initiative erfolgreich sein, würde dort der öffentlich-rechtliche Rundfunk aussterben. Die Gegner wollen das gar nicht wahrhaben. VON BERNADETTE CONRAD |
|
|
| | Anfang Janaur in Bern während einer Pressekonferenz des Komitees "Nein zum Sendeschluss", das gegen die Volksinitiative "No Billag" kämpft © Anthony Anex/Keystone/dpa |
Ich fuhr aus Basel heraus, es war kurz vor Weihnachten. Zusammen mit anderen hatte ich – als freie Mitarbeiterin des Schweizer Radios SRF – an einer einstündigen Sendung zu Heinrich Bölls 100. Geburtstag mitgewirkt. Eine Annäherung aus vielen Perspektiven an sein Werk, die darin enthaltenen Visionen und Hoffnungen auf eine solidarische Gesellschaft. Eine, wie Böll sagte, "bewohnbare" Welt und Sprache.
Galt irgendetwas davon heute noch? Oder hatten wir es mit einem längst veralteten Diskurs zu tun? Wir debattierten darüber, wie Böll seine humanistische Haltung gelebt und literarisiert hatte, wir sprachen über seine Kriegstagebücher und sein Verhältnis zu den Deutschen.
Erst an diesem Tag, nach der Aufzeichnung der Sendung, wurde mir im Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen klar, dass es in der Schweiz auf dem Spiel stand: das Radio, eines der letzten Medien, das nach 20 Jahren stetigem Abbau der journalistischen Landschaft geblieben war als Ort für ausgiebige Recherchen und lange thematische Beiträge. Denn wenn die – von drei Jungfreisinnigen bei einem späten Bier im Herbst 2013 erdachte – Idee der Abschaffung der Rundfunk- und Fernsehgebühren am 4. März unter dem Motto "No Billag" zur Abstimmung steht, geht es um alles oder nichts: Wird die Initiative angenommen, führt dies unwiderruflich zur Zerschlagung der Schweizer Radio-und Fernsehgesellschaft SRG. Zum Jahresende 2018 wäre alles abgewickelt. 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden entlassen. Die Schweiz wäre das erste Land in Europa ohne öffentlich-rechtliche, also unabhängige Berichterstattung.
Der Zufall wollte, dass an diesem Abend direkt neben mir im Großraumwagen der Schweizer Bahn ein Gespräch zum Thema unter sehr jungen, sehr gut gekleideten Leuten stattfand, die sich einig waren, schon allein "aus Prinzip" keine "Zwangsabgabe" für den "Staatssender" leisten zu wollen. Ich fasste mir ein Herz und fragte einen der jungen Männer, ob ihm klar sei, dass dies ein umgehendes Verschwinden des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens zur Folge hätte? Er wurde verlegen. Ob ich das sicher wisse? Vielleicht fände die SRG ja noch andere Wege?
Als ich mich in den Tagen danach ins Thema vertiefte, wurde mir klar, dass Verschleierung der Tatsachen ein gefährlicher Bestandteil der "No Billag"-Initiative ist. "Uns geht es nur um die Abschaffung der Gebühren, wir haben kein Interesse daran, die SRG zu schädigen", sagt Silvan Amberg, Co-Präsident des No-Billag-Komitees im Medienmagazin Edito. Dabei unterschlägt er, dass das Ende der Gebühren zugleich das Ende der SRG bedeuten würde: Die Initiative ist so formuliert, dass nach deren Annahme der Staat kein Recht mehr zum Einzug der Gebühren hätte. Womit den Öffentlich-Rechtlichen mit einem Schlag mehr als 75 Prozent ihrer Einnahmen verloren gingen: eine Summe, die nicht anderweitig kompensiert werden kann.
Zurück in Berlin stellte ich fest, dass das Thema im Kollegen- und Freundeskreis noch nicht angekommen war. Die Schweiz scheint zu weit entfernt zu sein. Aber an einem Abend Ende Januar saß ich im Publikum, als der Schweizer Schriftsteller Pedro Lenz in der Berliner Brotfabrik aus seinem Roman Der Goalie bin ig las. Später in der Kneipe erzählte er mir, dass auch ihm eine Zeit lang die weitreichenden Folgen der Abstimmung nicht klar gewesen seien. "Als ich die Tragweite verstand, wusste ich sofort, das dürfen wir nicht kampflos hinnehmen." Er gründete mit anderen die Initiative "Nein zum Sendeschluss" und steht ihr als Präsident vor.
Woher, frage ich ihn, kommt diese aggressive Abwehr gegen die Gebühren? Die Bewertung als "Zwangsabgabe"? Von 2019 an würden die Gebühren doch sowieso auf 365 Franken pro Jahr und Haushalt gemindert. Ist die Rundfunkabgabe nur ein vorgeschobener Anlass für das, worum es eigentlich geht: den Markt zu räumen, damit sich die Privatsender konkurrenzlos breit machen können?
"Mir fällt seit einigen Jahren in der Schweiz auf, dass die Idee eines Gemeinsinns verlorengeht", sagte Pedro Lenz. "Im politischen Diskurs sprechen sich immer mehr Leute dafür aus, gnadenlos nur das zu verteidigen, was ihnen persönlich nützt. Sie verlieren den Sinn dafür, was überhaupt ein Gemeinwesen ist. Wozu soll ich Steuern zahlen für Schulen, ich hab' keine Kinder! Was kümmert mich die Bahn, ich fahre mit dem Auto! Als wäre die Idee überhaupt nicht mehr vorhanden, dass man gesellschaftlich auch etwas geben kann, vielleicht auch geben sollte."
Ich den Müslüm, du die Skirennen
Die SRG und mit ihr mehr als 20 Regionalsender, die eine viersprachige Schweiz vertreten und bedienen, basieren auf dem solidarischen Prinzip, dass alle etwas abgeben. Als Ort, an dem unabhängige Berichterstattung stattfindet. Geleitet von privaten und unternehmerischen Interessen ist sie ohne Solidarität nicht denkbar: Reichere Regionen zahlen für ärmere Regionen mit. Von jedem Franken, der in der Deutschschweiz investiert wird, bleiben nur 43 Rappen dort – der Rest geht in die Suisse Romande, die italienische und rätoromanische Schweiz.
"Die Schweiz ist eine Nation, die sich weder auf eine lange gemeinsame Geschichte noch eine geografische Logik beziehen kann, wir haben auch keine gemeinsame Sprache", führt Pedro Lenz aus. "Wir werden als eine Art Willensnation zusammengehalten. Es gibt keinen Grund, warum ich das gleiche Nationalgefühl wie einer aus Genf oder einer aus Lugano haben sollte. Es sei denn, wir bemühen uns darum! Wenn wir nur knapp 400.000 italienischsprachige Hörerinnen und Hörer haben, aber auch ihnen Programm bieten wollen, müssen wir das finanzieren." Manchmal, sagt Pedro Lenz, helfe es auch, diesen Solidaritätszusammenhang auf witzige Art zu erklären. "Da wettert zum Beispiel ein Gebührengegner gegen den türkischstämmigen Schweizer Komiker Müslüm: 'Für den zahl ich doch keine Gebühren!' 'Nein nein', beruhige ich. 'Den Müslüm zahl ich. Du zahlst die Skirennen. Zusammen gibt das den Fernsehvertrag.'"
Aber Scherz beiseite. Er erlebe viel Anfeindung, seit er sich gegen die Initiative engagiere, sagt Lenz. Es kämen auch anonyme Briefe: "Du verwöhnter Staatskünstler, du hast gut reden, du hast die 400 Franken natürlich." Leute gingen davon aus, dass er von Radio und Fernsehen profitiere, gesponsert werde. Lenz schüttelt den Kopf. "Da ist so viel Uninformiertheit. Ein alter Mann auf dem Markt, der mir sagte, er werde für die Initiative stimmen, da er Fernsehen für Volksverdummung halte. Ich fragte ihn: Und Radio? Das höre ich den ganzen Tag, sagte er – aber das werde ja sicher nicht abgestellt. So denken viele Leute: Das Schweizer Radio ist wie das Matterhorn – etwas Gottgegebenes."
Ich selbst muss immer wieder an den jungen Mann im Zug denken. "Wir nutzen die öffentlich-rechtlichen Medien ja gar nicht", hatte er gesagt. Er informiere sich ausschließlich über das Internet. Wie aber stellt er sich eine Gesellschaft vor, in der alle in ihrer individuellen Internetblase hocken – kann man es sich überhaupt vorstellen, nachdem man ja ganz selbstverständlich mit der Verbindlichkeit von bestimmten Nachrichtensendungen, Hörspielen und Features, Dokumentationen und Sportsendungen aufgewachsen ist? Wie malt er sich die "Freiheit" in einer Welt der Privatsender aus, wo Information immer interessengeleitet und kommerziell ist? Die Freiheit der Privatwirtschaft, wie sie uns von Donald Trumps oder Silvio Berlusconis Medien vermittelt wird. In der Medienwoche war dieser Tage ein Interview mit der europaweit bekannten Chefin der dänischen Öffentlich-Rechtlichen, Maria Rørby Rønn, zu lesen: "Ihr würdet es bereuen", sagt Rønn unter Verweis auf Neuseeland, wo man den Schritt in den 1990ern getan hat und keinen Weg mehr zurück findet.
In der Schweiz geht es nun in die letzten Wochen vor der Abstimmung. Ein witziger Videoclip von 33 Schweizer Prominenten kursiert. Plakataktionen. Aufklärung auf Facebook. Wenn das Geld reicht, noch eine Abstimmungszeitung.
Im Kinosessel denke ich über alles nach, als zum Abschluss des Abends die Verfilmung von Pedro Lenz' Roman in der Brotfabrik läuft. Vorn auf der Leinwand raucht und trinkt der Goalie und konsumiert auch mal noch ungesündere Sachen. Er kommt gerade erst aus dem Knast, weil er in einer dubiosen Sache eisern zu seinen Freunden gehalten und diese nicht verraten hatte – die, mit denen er schon vor Jahrzehnten als Kind auf dem Fußballplatz gespielt hatte.
Es ist ein schöner, melancholischer Film über einen, der von der Gesellschaft eher zu den Verlierern gerechnet wird. Der sich seinen Stolz und Solidaritätssinn aber um keinen Preis abkaufen lässt. Eine Figur wie von Heinrich Böll, denke ich bei mir. Von gestern also? Veraltet? Hoffentlich nicht. Das Publikum in Berlin klatscht lange. Bernadette Conrad ist freiberufliche Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Literaturkritik, Porträt und Reisereportage; tätig für das Schweizer Radio SRF2, DIE ZEIT u.a. Zuletzt erschienen von ihr "Die kleinste Familie der Welt. Vom spannenden Leben allein mit Kind" (btb 2016) und zusammen mit Usama Al-Shahmani "Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister" (Limmatverlag 2016). Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
|
|
Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht.
Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen. |
|
|
|
|
|