Monatelang haben sich CDU und CSU um die deutsche Asylpolitik gestritten. Eine Regierungskrise, ja eine Staatskrise schien fast unabwendbar. Jetzt soll alles auf einmal bloß ein Sturm im Wasserglas gewesen sein. Man hat sich geeinigt, erst mit den EU-Partnern und zuletzt auch mit den Sozialdemokraten. Beim näheren Hinschauen jedoch entpuppt sich, was da in Berlin und Brüssel zusammengeschustert worden ist, als pure Scheinlösung. Als Fiktion. Der Begriff, den die Wörterbücher als Erdichtung, Einbildung, Annahme definieren, tauchte verwirrenderweise im Text der Einigung zwischen den beiden Unionsparteien auf. Da heißt es in Bezug auf die an der Grenze für Asylbewerber einzurichtenden Transitzentren im besten Juristendeutsch: "Zurückweisung auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise". Mit den Fakten hat die Fiktion nichts zu tun: Es wird einfach ein Stück Deutschland willkürlich zu Nicht-Deutschland umfirmiert, wie es ähnlich schon in den Transitbereichen der Flughäfen praktiziert wird – fragwürdig, aber 1993 vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet. Der Ausdruck Fiktion passt jedoch besser als irgendein anderer auf die entscheidenden Aspekte der Brüsseler und Berliner Formelkompromisse. Fiktion Nr. 1: Wir hätten eine neue Flüchtlingskrise gehabt. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass es bei der Migrantengruppe, derentwegen die bayerischen Streithammel die deutsche Politik fast ein Vierteljahr lang lahmlegten, um gerade fünf, höchstens zehn Personen am Tag geht.
Fiktion Nr. 2: Dass es einfach wäre, mit den zuständigen Ländern "Verwaltungsabkommen oder das Benehmen" über die Rückführung der Abgewiesenen herzustellen. Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn sind sowieso gegen jegliche Aufnahme. Österreich lehnt ein Abkommen über die Aufnahme der Zurückgewiesenen, wie es der dritte Punkt der Unionseinigung vorsieht, rundheraus ab; Bundesinnenminister Seehofer holte sich in Wien eine glatte Abfuhr. Übereinkünfte mit Frankreich und Spanien bringen rein zahlenmäßig nicht viel. Italien jedoch sperrt sich – es will Flüchtlinge loswerden; auf eine Rücknahme wird es sich bestenfalls zu einem hohen Preis einlassen. Eine Achse der Willigen, gebildet aus 14 Staaten, von denen im Bundeskanzleramt gefaselt wurde, ist weit und breit nicht zu sehen. Die Einreisestaaten kooperieren nicht. Fiktion Nr. 3: Der EU-Gipfel von Ende Juni habe eine konkrete und praktikable Einigung gebracht. Die Achtundzwanzig haben sich darauf verständigt, dem Schutz der Außengrenzen Priorität einzuräumen. Sie schlagen vor, die Einrichtung von disembarkation platforms – Ausschiffungsplattformen – für die aus Seenot geretteten Flüchtlinge außerhalb der EU zu prüfen, ferner die freiwillige Einrichtung von controlled centres – überwachten Zentren – in den EU-Mitgliedstaaten. Doch haben Albanien, Ägypten und Tunesien bereits abgesagt. Libyen, wo es bereits 17 elende Auffanglager gibt, will keine weiteren, und sperrt sich auch gegen die Schaffung von Auffanglagern an seiner Südgrenze. Und der Grundsatz der Freiwilligkeit gestattet der Bundesrepublik zwar die Einrichtung von Transitzentren, verpflichtet aber niemanden sonst dazu – und auch bei uns sind sie ja auf Druck der SPD verschwunden. Es soll keine Transitzentren geben, keine geschlossenen Lager, sondern Polizeiunterkünfte für Transitverfahren. Fiktion Nr. 7: Seehofer gibt Ruhe Fiktion Nr. 4: Dass die Aufgegriffenen wirklich binnen 48 Stunden abgefertigt und im Ablehnungsfall zurückgeführt werden können. Allein die Klärung der Frage, welches Land für den Asylantrag zuständig ist, wird meistens weit länger dauern. Fiktion Nr. 5: Dass der Ausbau und Aufbau der Grenzschutzeinheit Frontex von 1500 auf 10.000 Mann schon bald Wirkung zeigen könnte. Der jüngste Gipfel betonte zwar zum wiederholten Mal die Notwendigkeit, Frontex mehr Mittel und ein erweitertes Mandat einzuräumen, aber detaillierte Beschlüsse wurden nicht gefasst; die von der Kommission vorgeschlagene Frontex-Aufstockung auf 10.000 Grenzschützer fand im Schlusskommuniqué keine Erwähnung. Fiktion Nr. 6: Dass eine Reform des EU-Asylsystems bald schon gleiche Standards für die Behandlung von Asylbewerbern und ihren Anträgen bringen wird. Zwar sind fünf der sieben Reformvorschläge beschlussreif, doch haken die Verhandlungen bei den zwei wichtigsten: der Reform des Dublin-Systems und der Vereinheitlichung der Asylverfahren, der Angleichung also der Anerkennungskriterien und der Ausschaltung von Sekundärmigration (auf Bayerisch: Asyltourismus). Nicht einmal die übliche Aufforderung an die Präsidentschaft, die Arbeit an den Reformen fortzusetzen, fand Eingang in das Schlussdokument. Fiktion Nr. 7: Dass der Streithammel Seehofer nun Ruhe gibt. Der Bock soll jetzt den Gärtner geben – eine absurde Vorstellung. Schon versucht er ja auch, sich aus der letzten Verantwortung für die Verwaltungsabkommen mit den Nachbarn zu stehlen und sie der Kanzlerin zuzuschieben. Sie hätte ihn aus dem Stall werfen sollen, um sich endlich wieder der "großen Politik der Kabinette" zuwenden zu können, wie das wirklich Wichtige zu Bismarcks Zeiten hieß. Einen bescheidenen Anfang sollte Angela Merkel nächste Woche machen und dem Ekel Donald Trump das schmierige Busseln und Abgebusseltwerden verwehren. |
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