10 nach 8: Cécile Calla über Emanzipation in Frankreich

 
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27.07.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Auslaufmodell Superfrau
 
Französinnen managen alles perfekt: Liebe, Kinder, Karriere – so jedenfalls das Klischee. Junge Frauen fangen jetzt an, sich gegen diese aufreibende Rolle zu wehren.
VON CÉCILE CALLA

Kind, Karriere und immer perfekt geschminkt – viele Französinnen wollen dieses Idealbild nicht mehr erfüllen. © Lucas Barioulet/AFP
 
Kind, Karriere und immer perfekt geschminkt – viele Französinnen wollen dieses Idealbild nicht mehr erfüllen. © Lucas Barioulet/AFP
 

Die Französin ist hierzulande stets eine Projektionsfläche. Ich weiß das, denn ich bin selbst eine. Und immer, wenn ich das erzähle, merke ich, wie in meinem Gegenüber, egal welchen Geschlechts, sofort die üblichen Bilder hochkommen. Französinnen sind sexy und modebewusst, sie sind begnadete Schauspielerinnen und ehrgeizige Managerinnen. Doch vor allem sind sie Superfrauen, die einfach alles perfekt hinkriegen: Karriere, Liebe und Familie.

Diese gern erzählte Legende, die zugegeben von den Französinnen selbst genährt wird, könnte bald verblassen. Denn es gibt immer mehr Frauen in Frankreich, die diesem Idealbild kritisch gegenüberstehen und versuchen, ihr Leben anders zu leben: Entweder verschieben sie die Entscheidung für Kinder auf später oder wollen erst gar keinen Nachwuchs. Manche leben ganz ohne Partner – Phänomene, die überall in der westlichen Welt immer mehr Verbreitung finden. Nur werden solche Lebensmodelle in Frankreich immer noch tabuisiert.

Die Norm wird zum Verhängnis

Genau diesen Missstand möchte die Journalistin Myriam Levain ändern und hat letzten Mai das Buch Et toi tu t'y mets quand? veröffentlicht – auf Deutsch: "Und wann legst du los?" Darin erzählt sie über ihr ambivalentes Gefühl gegenüber der Mutterschaft, die Dauererschöpfung ihrer Freundinnen, die schon Kinder haben, und ihre Entscheidung, ihre Eizellen in Barcelona einfrieren zu lassen (das Einfrieren von Eizellen ist in Frankreich verboten, außer es besteht eine medizinische Indikation).

Der Zeitpunkt für die Veröffentlichung des Buchs könnte nicht passender sein. Seit drei Jahren sinkt die Zahl der Geburten in Frankreich, von 818.565 im Jahr 2014 auf 767.000 im Jahr 2017, die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau fiel von 1,99 auf 1,88. Vor allem junge Frauen zwischen 24 und 35 Jahren sind für diese Entwicklung verantwortlich. Damit ist Frankreich zwar nach wie vor eines der geburtenreichsten Länder Europas, aber etwas scheint sich zu verändern. Viele Experten ziehen die Wirtschaftskrise der letzten Jahre als Grund heran. Doch das reicht als Erklärung nicht aus. Myriam Levain verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf die französische Norm, Karriere zu machen und gleichzeitig zwei bis drei Kinder aufzuziehen. Ist nicht gerade diese Norm zum Verhängnis für viele Frauen geworden?

Ganz neu ist das Thema übrigens nicht. Bereits 1987 veröffentlichte die Journalistin Michèle Fitoussi ein Buch über die Überforderung der Superfrauen (Le ras-le-bol des superwomen, auf Deutsch: "Zum Teufel mit den Superfrauen: Die Sucht nach Perfektion"), das die negativen Folgen der Emanzipation beleuchtet. Etwa die Tatsache, dass Frauen nicht nur zu Hause und als Mutter, sondern auch in ihrem Beruf und in der Liebe perfekt sein müssen. Das Buch wurde ein Bestseller. Dennoch blieben Politik und Gesellschaft tatenlos.

Ein subversiver Akt

Als der Einfluss der Ökologie (Ökowindeln, Informationskampagnen für das Stillen) zunahm und neue Erziehungsmethoden (Verbot der Prügelstrafe, Montessori-Schulen, positive Erziehung) ihren Weg in die Gesellschaft fanden, schrieb die Philosophin Élisabeth Badinter 2010 einen Essay mit dem Titel Der Konflikt, die Frau und die Mutter. Darin stellt sie fest, dass die "Rückkehr zum Naturalismus" im Grunde nichts anderes tat, als die Frau wieder an den Herd zu binden – den Ort, dem sie eigentlich schon den Rücken gekehrt hatte. Obwohl die Autorin mit ihrer Schrift die Fortschritte der Emanzipation verteidigen wollte, stärkte sie vielmehr das Idealbild der Superfrau. Nur, dass die heutige Generation junger Französinnen dieses Idealbild nicht mehr bedingungslos übernehmen möchte.

Auch mein Freundeskreis gestaltete sich entlang diese Norm. Als Studentinnen wollten wir innerhalb eines Jahrzehnts möglichst alles gleichzeitig erreichen: den perfekten Job finden, den richtigen Partner und die richtige Umgebung für die eigene Familie. Fünfzehn Jahre später fällt die Bilanz etwas diverser aus: Zwar sind alle Mütter geworden und üben gleichzeitig einen Beruf aus, dennoch haben wir alle die Schattenseite dieser Norm erfahren und jede von uns hat auf ihre eigene Art und Weise darauf reagiert. Die einen haben einen geliebten Arbeitsplatz aufgegeben und sich für einen anderen entschieden, um die Arbeitszeit zu reduzieren. Die anderen machen weiter und sind dauerüberfordert. Und wieder andere sehen ihre Kinder viel seltener, als sie es sich wünschen würden. Alle haben am eigenen Leib erfahren, dass das Arbeitsleben und die Gesellschaft an den Bedürfnissen der Mütter und der Familien vorbeigehen.

Teilzeitjobs als Karrierekiller

Letztes Jahr sorgte der Begriff charge mentale, auf Deutsch "mentales Gewicht", in Frankreich für Aufregung. Eine Künstlerin namens Emma postete einige Comiczeichnungen mit Szenen aus dem Alltag überforderter Mütter, die zusätzlich zu ihrem Vollzeitjob den gesamten Haushalt organisieren müssen und von ihren Partnern oder Ehemännern wenig Hilfe bekommen – und wenn überhaupt, dann nur auf Anweisung. Innerhalb von wenigen Wochen sprach ganz Frankreich von den teilweise sehr lustigen Zeichnungen. Warum sie einen Nerv trafen, zeigt ein Blick in die Statistik. Frauen übernehmen laut Zahlen, die 2015 veröffentlicht wurden, immer noch zwei Drittel der Hausarbeit und 65 Prozent der Kinderpflege. Es sind immer noch überwiegend die Frauen, die an alles denken und alles organisieren müssen, die dafür sorgen, dass ihre kleine Familie funktioniert, und die folglich mit einem enormen mentalen Gewicht leben müssen.

Der Gender Pay Gap hat inzwischen 12,8% erreicht, und zahlreiche Studien weisen auf die Korrelation zwischen Mutterschaft und der Geschlechtereinkommenslücke hin. Anne Lauvergeon, eine erfolgreiche Unternehmerin, die unter anderem den Atomkonzern Areva leitete, bekam ihr erstes Kind mit 40, das zweite mit 43 Jahren. In einem Interview fand sie sehr aufrichtige Worte über dieses Dilemma. "Wenn Sie in unserem aktuellen System Karriere machen wollen, müssen Sie ihre Kinder entweder sehr früh oder sehr spät bekommen." Denn die Unternehmenskultur setzt nach wie vor mehr auf Anwesenheit als auf Effizienz. Es gibt auch zu wenige Teilzeitjobmöglichkeiten, die immer noch als Karrierekiller gelten. Der Mutterschaftsurlaub dauert in Frankreich 16 Wochen. Das heißt: Vier Monate nach der Geburt ihrer Kinder sind die meisten Frauen zurück am Arbeitsplatz, oft in Vollzeit.

Vorwurfsvolle Fragen und Blicke

Für andere Frauen wiederum stellt der Verzicht auf Mutterschaft den richtigen Weg zur Emanzipation dar. Die Entscheidung gegen Kinder gilt in Frankreich allerdings immer noch als ein subversiver Akt, weil er an einer französischen Obsession rührt. Eine hohe Geburtenrate gehört seit Langem zum Selbstverständnis einer erfolgreichen französischen Politik. Im 19. Jahrhundert war die französische Bevölkerung viel langsamer gewachsen als in den Nachbarländern, was bei vielen Politikern düstere Projektionen auslöste.

Die französische Familienpolitik findet ihren Ursprung in dieser Sorge. Die écoles maternelles, die Vorschulen für Kinder von 3 bis 6 Jahren, sind schon Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und das Kindergeld wurde bereits 1932 eingeführt. Deswegen bleibt Kinderlosigkeit in Frankreich immer noch ein Randphänomen. Ab 30, spätestens 35 Jahren, wird eine kinderlose Frau ständig mit vorwurfsvollen Fragen und Blicken konfrontiert. Nicht nur von der Familie oder Verwandten, sondern von Ärzten, Kollegen und Freunden. Laut der letzten verfügbaren Zahlen von 2013 bleiben 13,5 % der Französinnen kinderlos, 4% aus eigener Entscheidung.

All diese Diskussionen zeigen, dass das weibliche Idealbild längst zur Baustelle geworden ist. Auch in Frankreich gibt es nicht mehr nur einen einzigen Weg, um eine Superfrau zu werden. Das ist auch die wichtigste Botschaft des Buchs von Myriam Levain. 

Cécile Calla, 1977 geboren, war Korrespondentin der französischen Tageszeitung "Le Monde" und Chefredakteurin des deutsch-französischen Magazins "ParisBerlin ". Sie hat den Blog Medusablätter über Frauen und Feminismus gegründet.


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