10 nach 8: Lina Atfah über Abschiebungen

 
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13.07.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Haben Sie eine Ahnung, Horst Seehofer?
 
Menschen wie Jamal Nasser und ich verlassen unsere Heimat, weil wir leben wollen. 69 Abschiebungen zum 69. Geburtstag: Deutschland zeigt ein hässliches Gesicht.
VON LINA ATFAH

Eine Syrerin in einem temporären Flüchtlingscamp bei Rakka, 2017 © Bulent Kilic/AFP/Getty Images
 
Eine Syrerin in einem temporären Flüchtlingscamp bei Rakka, 2017 © Bulent Kilic/AFP/Getty Images
 

Ich höre, wie Sie, Herr Innenminister Seehofer, einen Witz machen über Ihren 69. Geburtstag und die 69 Abschiebungen nach Afghanistan, und wenig später kommt eine Nachricht von dort: Einer der Abgeschobenen, Jamal Nasser Mahmoudi, habe sich in Kabul erhängt. 

Ich komme für mich zu dem einzig möglichen Schluss, dass Sie, Herr Minister Seehofer, keine Pressekonferenzen mehr geben und Geburtstage nicht mehr öffentlich feiern sollten. Jamal Nasser, dessen Abschiebung Sie begrüßt haben, ist 23 Jahre alt geworden, und während der Großteil Ihres Lebens schon hinter Ihnen liegt, hätte die Zukunft auf Nasser noch gewartet, wenn er nicht abgeschoben worden wäre.

Ich schäme mich, mit solchen Ministern wie Ihnen auf einem Planeten zu leben. Und wissen Sie was? Es ist nicht nur Scham, die mich befällt, ich habe auch Angst.

Haben Sie eine Ahnung, warum ein 23-jähriger Mann, der wie jeder andere Mensch glücklich über seine Heimkehr sein müsste, sich erhängt hat? Er war nicht glücklich, nach Hause zu kommen. Weil die Orte, aus denen Menschen wie Jamal Nasser oder ich nach Deutschland kommen, Menschenfarmen sind.

Wissen Sie, was Menschenfarmen sind? Dort werden wir gezähmt, unsere Gehirne werden gewaschen und unsere Seelen getötet. Und gleichgültig, ob sich unsere Zahl verdoppelt oder verringert, sind wir dort nichts als Nummern. Nummern, die laufen können.  

Niemand verlässt das Land seiner Familie, seiner Erinnerungen und seiner Kindheit freiwillig, niemand hasst es, in seiner Heimat leben zu müssen. Könnte es sein, dass wir Geflüchteten nicht genug von unserer Geschichte erzählt haben, dass die Kameras nicht genug Fotos und Videos unserer zerstörten Städte gezeigt haben, sodass Sie, Herr Minister Seehofer, wie viele andere auch, das Rätsel nicht lösen können: Warum bloß verlassen Menschen ihre Länder?

Wir verlassen unsere Länder und kommen nach Europa, um zu überleben und um eine Chance auf ein normales Leben zu bekommen. Wir wollen lernen, arbeiten und leben!

Ist die Erde zu klein, um uns alle aufzunehmen?

Ich dachte, dass nur unsere elenden Länder von Tyrannei und Unterdrückung regiert wären. Ich dachte, dass Ungerechtigkeit nur von unseren Diktatoren ausgeht. Aber als ich Sie sah, während Sie die Anzahl Ihrer Lebensjahre mit der Anzahl der Abgeschobenen verglichen, wusste ich, dass Unterdrückung keine Grenzen kennt. Dass sogar die Länder, die in meiner Fantasie ein Bild von Aufrichtigkeit und Menschlichkeit abgeben, ein hässliches Gesicht haben können.

Es ist sehr gefährlich, wenn ein Mann in Ihrer Position die Gründe für einen Asylantrag ignoriert. Ich finde es auch seltsam, Sie darauf hinweisen zu müssen, dass wir keine Flüchtlinge geworden wären, wenn die Welt sich nicht entschieden hätte, über Baschar al-Assad zu schweigen. Natürlich sind wir, die Syrerinnen und Syrer, nicht die einzigen Opfer dieses Schweigens. Wenn Tyrannei, Unterdrückung und Korruption ein Land regieren, löst das unerwartete Nachbeben aus, die so weitgreifend ausfallen können, dass ein Land Hunderttausenden von Geflüchteten eines anderen Landes, das 3.000 Kilometer weit entfernt liegt, seine Türen öffnet.  

Ich würde Ihnen gern einen Tipp geben: Versuchen Sie, die wahren Fluchtgründe zu beseitigen, anstatt die Menschen abzuschieben oder sie dem Tod im Meer zu überlassen. Und falls Sie kein Interesse daran haben, lassen Sie es bitte wenigstens die anderen tun und seien Sie kein Stein, der die Geschichte blockiert.

Leider weiß ich, dass viele Leute genau wie Sie denken. Aber ich weiß auch, dass selbst wenn sich das Auge der Gerechtigkeit schlösse, die Menschlichkeit nie schliefe. Deutschland könnte so viel unternehmen, um seine Bürger vor Rassismus, Extremismus und Gewalt zu schützen.

Ja, Herr Minister, die meisten Menschen sind, wenn sie ihre Lebensjahre zählen, voller Liebe im Herzen, und es gibt die unterschiedlichsten Methoden, das auszudrücken. Die Zahl der eigenen Jahre steht in solchen Momenten selten für das, was sie einem anderen Menschen nehmen, sondern dafür, was sie anderen geben. "Mensch" – das ist das Wort, das ich gern nachträglich für Sie buchstabieren würde, auf Deutsch und auf Arabisch.

Lina Atfah, geboren 1989 im syrischen Salamiyya, ist Lyrikerin und Schriftstellerin. Mit siebzehn wurde sie der Gotteslästerung und Staatsbeleidigung beschuldigt und von allen kulturellen Veranstaltungen in Syrien ausgeschlossen. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Wanne-Eickel. 2017 hat sie den Kleinen Hertha-Koenig-Literaturpreis gewonnen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". 

Übersetzung aus dem Arabischen von Osman Yousufi. 


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