Das Gesicht des Todes aushalten Sollte man sich die Leiche eines Verstorbenen ansehen, um Abschied nehmen zu können? Unsere Autorin fand Wege der Trauerarbeit während eines Praktikums beim Bestatter. VON CAROLINE KRAFT |
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| | Nach einem gewaltsamen Tod stellt sich den Hinterbliebenen oft die Frage, ob sie sich den Anblick des Verstorbenen zumuten wollen. © Sophia Kembowski/dpa |
Meine Geschichte beginnt vor drei Jahren, an meinem Geburtstag. Ein paar Minuten nach Mitternacht klingelt mein Handy. Ich liege schon im Bett und habe keine Lust auf Glückwünsche. Dann klingelt das Festnetztelefon und mein Anrufbeantworter schaltet sich ein. "Caro, ich stehe vor deiner Tür, geh mal bitte ran." Die Stimme einer Freundin. Überrascht setze ich mich auf. Ich denke an eine nächtliche Geburtstagsüberraschung und bin gerührt. Ich öffne die Tür. "Du bist ja süß", setze ich an und stocke, als ich ihr Gesicht sehe. Sie weint. Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Freundin jemals vorher habe weinen sehen. "S. ist tot", sagt sie. "Er hat sich das Leben genommen."
Der Tod meines Exfreundes ist eine einzige Leerstelle für mich. Nicht nur die Art, wie er gestorben ist, und die Fragen, die seine Todesumstände aufwerfen – auch alles, was danach folgt. Es ist schwierig, an Informationen zu kommen. In vielen Gesprächen mit verschiedenen Freunden setzt sich nach und nach ein vages Bild davon zusammen, was passiert ist. Ich höre, dass sein Leichnam noch nicht freigegeben wurde und habe keine Ahnung, was das bedeutet. Einige Zeit später, nachdem, wie es heißt, die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen sind, kommt seine Familie nach Berlin. Unserem Wunsch, ihn noch einmal zu sehen, entgegnet die Bestatterin mit den Sätzen: "Tun Sie sich das nicht an. Behalten Sie ihn so in Erinnerung, wie er war." Solche Sätze, denke ich heute, sollten verboten werden. Bei mir lösen sie eine Flut von Bildern aus.
Mein Kopf fängt an, die Leerstellen mit Bildern zu füllen. Ich male mir aus, wie er gefunden wurde, wie er jetzt aussieht, worin er transportiert, wohin er gebracht wurde, wie er dort liegt und was gerade mit ihm passiert. Es ist wie mein eigener Horrorfilm, über den ich keine Kontrolle habe, ein Film, der wieder und wieder abläuft, der immer neue Bilder produziert und nicht aufhören will. Ich googele. Ich will wissen, wie sein Körper aussieht, wie er riecht, welche Maschinerie sich nach seinem Tod in Gang gesetzt und wer ihn angefasst hat. Die Antworten sind diffus, die Ungewissheiten bleiben.
Ich fahre mehrere Male quer durch die Stadt bis zum Bestattungsinstitut in Zehlendorf, nur um hilflos von der anderen Straßenseite aus auf die Fassade zu starren. Irgendwann bekomme ich einen Anruf von seinem Bruder: Das Bestattungsinstitut hat uns wissen lassen, dass der Leichnam am Tag zuvor kremiert wurde. Für mich ist das ein Schock. Es fühlt sich an, als hätte ich die Nachricht seines Todes gerade ein zweites Mal bekommen. Ich kann nicht glauben, dass sein Körper verbrannt wurde, während ich mir die Zähne putzte oder ein Brot schmierte, einfach so, ohne dass irgendjemand Bescheid wusste, genauso allein, wie er gestorben ist.
Ich bin am Leben. Er ist tot.
Wenn ein naher Mensch stirbt, brauchen wir Zeit, um zu begreifen. Für mich war die körperliche Seite des Todes immer schon unbegreiflich. Wie kann es sein, dass ein Mensch, den ich kenne, mit dem ich gesprochen und gelacht habe, jetzt in dieser Kiste liegen, dass seine Asche in diesem Gefäß sein soll? Was soll das überhaupt sein: seine Asche? Mein Exfreund ist nicht der erste Mensch, den ich in meinem Leben verloren habe, doch er ist der erste Mensch, dem ich auch körperlich nah gewesen bin. Ich glaube, dass diese Tatsache eine Rolle spielt, dass sie eben jene Fassungslosigkeit intensiviert. Der Tod und das Begehren passen nicht gut zusammen. Ich starre auf meine Hände, die sein Gesicht streichelten, denke an seine Hände, die ich so schön fand. Ich bin am Leben. Er ist tot. Mein Verstand arbeitet auf Hochtouren und mein Körper wird seltsam taub.
Ich gebe mir Zeit. Viel Zeit. Ich beschäftige mich mit dem Tod und der Trauer und spreche mit Menschen, die sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzen. Die quälenden Bilder aber bleiben. Sie werden weniger, doch sie verschwinden nie ganz. Etwa anderthalb Jahre später stoße ich auf ein Interview mit einem jungen Bestatter, der als Quereinsteiger in der Branche angefangen hat. Er spricht von einer alternativen Bestatterszene, die transparent arbeitet und die Bedürfnisse der Angehörigen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt. Ich fange an zu recherchieren und stoße auf die Webseite des Berliner Bestatters Uller Gscheidel. Dort lese ich von Abschiednahmen, vom gemeinsamen Waschen und Ankleiden des Verstorbenen, vom Gestalten des Sarges und von begleiteter Kremation. Ich staune. Es scheint also auch ganz anders zu gehen.
Einige Stunden später habe ich alles gelesen, was ich zu diesem Thema finden kann. Ich erfahre, dass es eine neue Generation von Bestattern gibt, die sich, wie Uller Gscheidel, vor gut 15 Jahren aufgemacht hat, den Umgang mit dem Tod zu verändern und neue, zeitgemäße Rituale zu finden, die die Trauer positiv befördern. Die, ähnlich wie die Hospizbewegung, den Tod wieder mehr ins Leben integrieren und aus der Tabuzone herausholen will. Die die Angehörigen ermutigt, die Zeit zwischen dem Tod und der Beerdigung einer Person zu nutzen, um herauszufinden, was ihnen beim Abschiednehmen hilft. Mein Entschluss steht schnell fest: Ich will das alles mit eigenen Augen sehen.
Wie eine Hebamme, nur andersrum
Einen Monat später sitze ich mit Uller Gscheidel im Auto. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und sind übereingekommen, dass ich für drei Monate ein Praktikum bei ihm machen werde. Er hat keine eigenen Räumlichkeiten, sondern geht zum Erstgespräch zu den Angehörigen nach Hause oder trifft sie im Büro einer Kollegin – einem hellen Raum mit bunten Bildern an den Wänden, auf dem Tisch eine Schale mit Süßigkeiten und eine Vase mit Blumen. Pietätvolle Gardinen und ausgestellte Särge oder Urnen sucht man dort vergeblich. "Ich arbeite eher wie eine Hebamme, nur andersrum", erklärt Uller Gscheidel schmunzelnd. Er trägt schwarze Hosen, ein weißes Hemd und eine Jeansweste und strahlt vor allem eins aus: Bodenständigkeit. In den kommenden Monaten werde ich immer wieder darüber staunen, wie unkonventionell er seinen Beruf ausübt. Kataloge mit Särgen oder Urnen holt Uller Gscheidel nur heraus, wenn Angehörige spezielle Wünsche äußern. Ansonsten hat er eine Art Standardausrüstung – darunter einen schönen hellen Kiefernsarg und eine schlichte Urne –, die einem, wenn man denn möchte, viele dieser seltsamen Entscheidungen abnimmt. Überhaupt wirkt seine Arbeit wenig kaufmännisch. Sein Hauptaugenmerk liegt darauf, gemeinsam mit Angehörigen und nahen Freunden einen Prozess des Verabschiedens zu entwickeln, mit dem alle Beteiligten auch rückblickend einverstanden sein können. Trittsteine in einem unbekannten Gewässer nennt Uller Gscheidel sie: die Entscheidungen, die kleinen und großen Rituale, die Handlungen und Gesten, die den Angehörigen Halt geben und sie durch diese Zeit führen.
Wir fahren zu einer Abschiednahme nach Rixdorf, zum Fuhrunternehmen Schöne, mit dem Uller Gscheidel zusammenarbeitet. Auf dem kopfsteingepflasterten Hof stehen vier schwarze und ein cremeweißes Auto mit verdunkelten Fenstern, auf dem lang gezogenen Backsteinbau prangt die Jahreszahl 1894. Dort, wo ehemals die Ställe untergebracht waren, befinden sich jetzt hochmoderne Kühlungen. Es ist ein schöner, historisch anmutender Ort, an dem ich, wären nicht die unverkennbaren Wagen, keine toten Körper hinter den Flügeltüren aus Holz vermutet hätte. Einer der Ställe ist noch in Betrieb, dort stehen zwei weiße Pferde. "Für Kinder ist das eine Attraktion, die lieben die Pferde", sagt Uller Gscheidel. "Und wenn man auf die Frage, wo der Opa denn jetzt ist, sagen kann: 'Der ist da, wo du die Pferde gestreichelt hast', macht das auch vieles leichter."
Während der Abschiednahme halte ich mich im Hintergrund. Im Sarg liegt eine junge Frau, die durch einen Unfall ums Leben gekommen ist. Ihre Mutter und ihre Schwester wollten sie noch einmal sehen, doch die Polizei und der Bestatter hatten ihnen abgeraten – mit einem Satz, den ich nur allzu gut kenne. Eine Freundin der Familie hatte vorgeschlagen, die Meinung eines zweiten Bestatters einzuholen. In so einem Moment, sagt Uller Gscheidel, sieht er sich als Zeuge, der den Toten stellvertretend für die Angehörigen gegenübertritt und eine Empfehlung ausspricht. In all den Jahren ist es nur einmal passiert, dass er von einer Abschiednahme abgeraten hat. Dabei hält er es für essenziell, die Angehörigen vorzubereiten und ihnen genau zu erklären, was sie zu erwarten haben. Er beschreibt die gebrochene Nase und das Hämatom über dem linken Auge. Das eingefallene Gesicht. Die Naht, die man trotz der Kleider, die die Familie für sie ausgesucht hat, oben am Hals noch ein wenig sieht, wegen der Autopsie, die nach dem Unfall stattgefunden hat. Ja, sie sieht wahrscheinlich anders aus als vorher, und das wirkt erst einmal erschreckend. Aber sobald man sich an den Anblick gewöhnt hat, sieht sie eigentlich ganz friedlich aus.
Normalität im Ausnahmezustand
Uller Gscheidel nennt diesen Anblick "das letzte Gesicht". Er nickt den beiden aufmunternd zu. Sie halten sich an den Händen, während sie den Raum betreten, den wir zuvor hergerichtet haben. Neben dem offenen Sarg stehen zwei Stühle, es brennen Kerzen. Auch am anderen Ende des Raums stehen zwei Stühle. Uller Gscheidel ist es wichtig, dass die Angehörigen sich in ihrem eigenen Tempo verabschieden können. Manche gehen direkt zum Sarg und fassen ihre Toten an. Manche brauchen Zeit, um sich zu nähern. Ich bin beeindruckt davon, wie präzise Uller Gscheidel den Prozess der beiden Frauen vorhergesagt hat. Nach dem ersten Schrecken verwandelt sich ihre Angst langsam. Sie nähern sich dem Sarg, Schritt für Schritt, irgendwann sitzen sie beide neben der Toten. Ich merke, wie sehr sich Uller Gscheidel auf sein Gefühl verlässt. Wie viel Unterstützung, wie viel Nähe brauchen die beiden gerade? Wie viel Raum? Gibt es Unsicherheiten oder unausgesprochene Fragen, die beantwortet werden wollen? Irgendwann ist von der ersten Anspannung nicht mehr viel zu spüren, die junge Frau hält die Hand ihrer Mutter und streichelt gleichzeitig die Hand ihrer toten Schwester. Die Frauen reden und weinen, miteinander und mit der Verstorbenen. Sie wirken traurig und verzweifelt, aber auch gelöst. Uller Gscheidel gibt mir ein Zeichen, wir gehen in den Hof und ziehen die Tür leise hinter uns zu. Draußen steckt er sich einen Zigarillo an. Eine Stunde später wird die Mutter ihm die Hand drücken und ihm dabei fest in die Augen schauen. "Ich danke Ihnen, dass Sie uns das ermöglicht haben", wird sie sagen. "Ich weiß nicht, wie ich es sonst jemals hätte begreifen sollen."
Am Abend nach meinem ersten Tag als Bestatterpraktikantin erinnere ich mich an eine Situation nach dem überraschenden Tod meines Opas, die ich viele Jahre vergessen hatte: Meine Mutter erzählte mir, wie sie meinen Opa am Tag nach seinem Tod im Krankenhaus noch einmal angeschaut hatte. "Er hat ganz friedlich ausgesehen", hat sie gesagt. "Seine Hände lagen auf seinem Bauch, und sie fühlten sich zwar kalt, aber auch ganz weich an." Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich jemand gefragt hat, ob ich mitkommen wollte, doch ich weiß noch genau, wie froh mich der Satz meiner Mutter gemacht hat. Er hat mir unerwartet Halt und ein seltsames Gefühl von Normalität in einem Ausnahmezustand gegeben.
In den nächsten drei Monaten meines Praktikums werde ich lernen, was mit unseren Körpern passiert, wenn wir sterben, worin wir transportiert werden, wo wir dann liegen, wer uns anfasst, wie wir riechen und wie wir aussehen. Ich werde lernen, wie stark es uns macht, genau da hinzuschauen, wovor wir am meisten Angst haben. Ich werde lernen, welchen Unterschied es für unsere Trauer macht, ob und wie wir die möglichen Trittsteine nach dem Tod eines nahen Menschen nehmen. Ich werde lernen, wie wichtig gute Berater sind, die uns auf diesem Weg ermutigen und bestärken. Und ich werde lernen, dass es vor allem unsere inneren Bilder sind, vor denen wir uns fürchten – und schützen sollten.
Caroline Kraft war die vergangenen zehn Jahre in der Verlagsbranche tätig – in London, Frankfurt und Berlin, wo sie heute lebt und als PR- und Kommunikationsberaterin arbeitet. Sie ist ausgebildete Sterbebegleiterin und Mitgründerin des Podcasts "endlich. wir reden über den tod". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". |
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Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht.
Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen. |
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