Fünf vor 8:00: AfD-Kritik auf AfD-Niveau - Die Morgenkolumne heute von Jochen Bittner

 
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FÜNF VOR 8:00
07.06.2018
 
 
 
   
 
AfD-Kritik auf AfD-Niveau
 
Die Linke trägt eine Mitschuld an der Verrohung des politischen Klimas. Spielt bei der Frage der Menschenwürde jetzt wirklich die Parteizugehörigkeit eine Rolle?
VON JOCHEN BITTNER
 
   
 
 
   
 
   
Es gibt Dinge, über die muss man nicht mehr lange reden, wohl aber immer wieder. Darüber, dass die AfD eine demagogische Partei ist, die an das Niederste im Menschen appelliert, an die Arterhaltungstriebe und Angstinstinkte des Reptilienhirns, statt an seine Fähigkeit zur hinterfragenden Vernunft. Darüber, dass zwar nicht alle ihre Mitglieder Nazis sind, aber dass sämtliche ihrer Abgeordneten in Bund und Ländern ihren Sitz, ihre Stimme und ihr Gehalt auch all jenen Nazis, Antisemiten und völkischen Rassisten zu verdanken haben, um die diese Partei im Wahlkampf mit geworben hat und mit wirbt.

Genau darum ging es auch beim "Vogelschiss". Wer den Verlust (oder die bewusste Ausschaltung) seines faktischen und ethischen Urteilsvermögens derart unter Beweis stellt wie Alexander Gauland, soll sich über diskursive Ächtung nicht wundern. Der AfD-Chef hat sie verdient. Alle, die diese Partei immer noch wählen, machen sich mitschuldig an der Entmenschlichung der politischen Auseinandersetzung und am Abtrag zivilisatorischer Werte.

Leider gilt genau das, und darüber wird noch nicht genug geredet, auch für immer mehr Gegner der AfD.

Verlust der Zivilisiertheit auf beiden Seiten

Es ging nicht bloß um eine Badehose in den vergangenen Tagen. Es geht auch nicht bloß um Schadenfreude. Es geht um den Verlust der Zivilisiertheit aufseiten jener, die sie angeblich verteidigen. Das "Badespaß"-Gelächter war nicht der erste dieser Ausfälle, es steht in einer Reihe. Wer das Foto eines älteren Mannes, der gerade bestohlen wurde und in dieser Lage ganz sicher nicht fotografiert werden wollte, mit hämischen Kommentaren weiterverbreitet, dem fehlt nicht nur menschlicher Anstand. Ihm oder ihr fehlt auch das geschichtliche Bewusstsein dafür, was passieren kann, wenn zwei Lager immer weniger die inhaltliche Auseinandersetzung suchen, sondern immer mehr die Erledigung des Andersdenkenden. Eine hypermoralisierende und untermoralische Linke trug eine gehörige Mitschuld am Scheitern der Weimarer Republik – und ebenso am Wahlerfolg Donald Trumps. Im Deutschland dieser heißen Frühsommertage fühlt man gerade wieder dieselbe Hitze.

Als ließe sich menschenverachtender Unfug nicht mit dem Gegenteil bekämpfen, mit kämpferischer Vernunft, schmeißen vermeintliche Liberale mit der gleichen Art Mist zurück, wie er von rechts außen kommt. "Alexander Gauland ist 1000 Jahre Vogelschiss", twittert der Satiriker Shahak Shapira und 1.600 Leuten gefällt dieser unwitzige Sandkastenspruch. Ein anderer Twitterer, der laut Selbstauskunft "gegen Demokratiefeinde" ist, schreibt: "Alle, die jetzt die Menschenwürde eines alten Mannes in Badehose hochhalten, während im Mittelmeer Kinder ersaufen: nein". Über 700 User liken das, offenbar ohne zu merken, dass sie damit zugleich den Urgedanken des Post-1945-Deutschlands disliken: die universelle Geltung der Menschenwürde. Langsam, langsam, schallt es zurück, was ist eine Verniedlichung des Massenmords im Vergleich zu einem Klamottenklau?

Doch um Vergleiche geht es gerade nicht, sondern um die Unbedingtheit bestimmter Standards, die völlig unabhängig vom Kontext gelten. Oder müssen wir jetzt bei der Frage, welche Würde jemand beanspruchen kann, wieder dessen politische Haltung einpreisen? Ja, geht's denn noch?

Ob die Grünen-Politikerin, die Gauland filmend aus Frankfurt austreiben will; ob die Demonstranten in Berlin, die der AfD ihren "Hass" entgegenrufen; ob Journalisten, die ernsthaft behaupten, es stünden im Gauland-Foto-Fall "50 Millionen Tote gegen eine Badehose": Ein Übel rechtfertigt ihnen das andere. Geschuldet ist das einer regelrechten Kriegsmentalität, einem Rigorismus, in dem der Zweck die Mittel heiligt und Schranken fallen.

Der sicherste Weg, die Ränder zu stärken

Dass Rechtsextreme die Gleichwertigkeit aller Menschen bestreiten, wundert nicht. Darauf, dass es nicht so sei, fußt ja ihre Weltanschauung. Aber warum tun sich Linke neuerdings so schwer mit dem Gedanken, dass es entwürdigend ist, Menschen gegen ihren Willen zum Objekt zu machen, zum Objekt von Voyeurismus, Häme und Spott? When they go low, we go low, although not quite as low, ist das jetzt das neue linke Cool?

Wer die Gleichwertigkeit jedes Menschen nicht anerkennt, wer es nicht schafft zu abstrahieren zwischen einer Person und ihrer Position (über die man natürlich spotten darf), der kündigt einen grundlegenden zivilisatorischen Konsens dieses Landes und führt es immer tiefer in die Polarisierung. AfD-Kritik auf AfD-Niveau ist der sicherste Weg, die linke Mitte immer unglaubwürdiger zu machen und die Ränder immer dicker.

Das Zeitalter der Extreme hat der Historiker Eric Hobsbawm seine Geschichte des 20. Jahrhunderts genannt, einer Zeit, in der der Liberalismus immer weiter eingequetscht wurde durch selbstgerechte, missionarisch beseelte Frontdenker von rechts und links. Offenbar stolpern wir gerade wieder hinein.
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.