10 nach 8: Sabine Scholl über Frauen im Widerstand

 
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27.06.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Im Nebel der Geschichte
 
Über die NS-Zeit wird in Österreich geschwiegen. Oder Täter stilisieren sich zu Opfern. Der Widerstand gegen die Unmenschlichkeit erfolgte maßgeblich von Frauen.
VON SABINE SCHOLL

Heinrich Himmler auf dem Rathaus-Balkon von Linz, 1938 © Central Press/Getty Images
 
Heinrich Himmler auf dem Rathaus-Balkon von Linz, 1938 © Central Press/Getty Images
 

Wenn ich in die Gegend zurückkomme, in der ich aufgewachsen bin, überfällt mich stets Beklemmung. Mein Unbehagen wabert an den Flüssen entlang und zwischen den grünen Hügeln hin und her. Es verhindert, dass ich mich dort fraglos heimisch fühle. Daher musste ich früh fort. Seitdem suche ich nach dem Grund für dieses Gefühl des Unheimlichen.

So sehr ich mich an meine Unsicherheit als Jugendliche erinnere, so wenig habe ich über die jüngere Geschichte Oberösterreichs erfahren. Denn das Wissen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs wurde uns Nachgeborenen unterschlagen. Ich suchte nach Antworten, wo nie Fragen gestellt worden waren. Dieses Versäumnis hatte Auswirkungen auf mein Leben und Fühlen, ohne dass ich dies wahrhaben wollte. Die stille Übereinkunft, nicht über Kriegszeiten zu sprechen, verbat einen Austausch von Erinnerungen.

Kürzlich jedoch fiel mir das nach Stichworten geordnete Buch Im Schatten von Hitlers Heimat in die Hand, das Namen von Orten verzeichnet, die ich von Kind auf kenne. Im sogenannten Heimatkunde-Unterricht hörten wir bloß Legenden und nie, dass der Naziführer in unserer Nähe aufgewachsen war, und wir wussten auch nicht, was während des Kriegs an besagten Orten genau geschehen war. 

Unhinterfragtes Misstrauen

Im Buch finde ich nun das Foto einer Wohnsiedlung, die über dem Gelände eines ehemaligen KZs erbaut wurde. Ich erfahre, dass der Mentor meiner literarischen Anfänge als junger Mann NS-Propagandatexte verfasst hatte. Ich lese über Verstecke der letzten Nazis vor Kriegsende. Der früh verspürte Grusel gründete also im Nebel des Verschweigens von Geschichten, die in Landschaft und Gebäuden eingelagert waren und deren Auswirkungen ich in meiner Kindheit mitbekommen hatte.  

In dem ehemaligen Armenhaus, in dem ich aufgewachsen bin, lebten Menschen, die die Gesellschaft ausgemustert hatte: eine ledige Mutter, vom Krieg Vertriebene, kinderreiche Familien von Gelegenheitsarbeitern, die Alkohol tranken und rauchten, das Paar mit geistig zurückgebliebenen Söhnen, die sich nacheinander vom Zug totfahren ließen. Später kamen Gastarbeiter dazu. Wir Kinder sollten uns von ihnen fernhalten, was wir aber nicht taten.

Noch heute gibt es diesen Nebel, noch heute werden klare Benennungen vermieden, noch heute erzählt eine Bekannte, dass ihre Töchter in den Achtzigerjahren "heiß wurden" (ein regionaler Ausdruck für "wütend werden"), wenn sie von ländlichen Behörden nicht respektvoll behandelt wurden. So drückt sie aus, dass den – wegen ihres karibischen Vaters – fremd aussehenden jungen Frauen unhinterfragtes Misstrauen entgegenschlug. Nie würde diese Mutter das Wort "Rassismus" in den Mund nehmen, auch aus Angst, ihren Kindern weiter zu schaden.

Diebstahl jüdischen Eigentums

Das ist aber das Problem. Inzwischen wurden die verschwiegenen Orte von Historikern erforscht und Zeitzeugen befragt, inzwischen wird in zahlreichen Projekten und manchmal sogar in Reden von Politikern an die Grausamkeiten der Nazi-Diktatur erinnert, doch im Herrschaftsdiskurs der blauen Regierungspartei wird die Opferrolle umgedreht. Nun sind es Nachfahren und Nachdenker der damaligen Täter, die sich von korrekten Benennungen und exakten Lokalisierungen behelligt fühlen und meinen, dagegen kämpfen zu müssen. Sie inszenieren sich als Opfer, und ihre Anhänger machen es ihnen nach, wehren alles ab, was das geschönte Bild von sich selbst und ihrer Heimat (gerne auch als "Daham" bezeichnet) stört.

So wird die Verweigerung eines vielseitigen Diskurses seit Kriegsende betrieben. Und welcher der jungen FPÖ-Wähler weiß denn von der totalen Umgestaltung der Städte und Regionen in perfekt funktionierende Apparate des Nazi-Regimes? Von der Anfertigung von Formularen zum ordnungsgemäßen Diebstahl jüdischen Eigentums, von Sammellagern für Nicht-Sesshafte, von Zwangsarbeit, von akribisch geführten Karteikarten über KZ-Insassen und so fort?

Gnadenlos ausgeübte Unmenschlichkeit

Ihre Großeltern und Eltern erzählten ihnen von Arbeit, die sie bekamen, von Verbesserung der Infrastruktur, vom Heldentum, wenn überhaupt. Sie hörten nichts über das hervorbrechende Böse, über antrainierte und gnadenlos ausgeübte Unmenschlichkeit. Gefühls- und Gedankenreste davon blieben jedoch in Körpern und Landschaften erhalten, zumindest war es in meiner Gegend so. Obwohl keiner in meiner Familie die Nazi-Zeit je gelobt hat, waren viele ihrer "Werte" weiter gültig und deren Ursprung wurde bloß allmählich durch Umgestaltung, Verbauung, Beschönigung überlagert.

Nun soll auf Vorschlag der mitregierenden FPÖ sogar der Begriff "Heimat" und ihre sorgsame Pflege in der Landesverfassung festgelegt werden. Händeschütteln und Schweinefleisch werden als Beispiele für die Tradition genannt. Diese Nötigung zu einer landläufigen Heimat bedeutet, sich zur Abwertung des Anderen zu bekennen. Die Gespenster sind darüber hocherfreut.

In der verschwiegenen Vergangenheit sind jedoch auch Geschichten von Menschen enthalten, die der von oben verordneten Unmenschlichkeit nicht gehorchten und versuchten, Verfolgten zu helfen. Frauen, besonders im Salzkammergut, waren daran maßgeblich beteiligt, wie ich aus dem – von Lokalhistorikern verfassten – Wanderführer Auf den Spuren der Partisanen erfahre. Die Gegend war mir auch aus sehnsüchtigen Berichten von exilierten jüdischen Künstlern bekannt, welche in der Zwischenkriegszeit ihre Sommerferien in Villen verbracht hatten, die nach ihrer Vertreibung von hochrangigen Nazis besetzt wurden.

Fluchtrouten der Widerständler

Nun erfahre ich, dass die in den Villen putzenden und Wäsche waschenden Frauen die ihnen von den Herrenmenschen zugeschriebene Bedeutungslosigkeit nutzten, um Botengänge zu erledigen, Verfolgte zu verstecken, Nahrungsmittel zu besorgen und zu verteilen. In kleinen Gruppen, meist keiner Partei oder Organisation zugehörig, leisteten sie zivilen Widerstand.

Der Wanderführer folgt den Wegen von Partisanen über Almen und Berghütten entlang, deren Namen ich auch aus den Erzählungen meiner Eltern kenne, für die es nichts Schöneres gab, als frühmorgens auf Berge zu steigen. Beide Kriegskinder, entkamen sie dem Ort ihrer Geburt, indem sie immer öfter ins Salzkammergut aufbrachen, sich sozusagen eine weitere Heimat erwanderten. Mir aber war das als Heranwachsende nicht weit genug. Ich weigerte mich bald, an diesen Ausflügen teilzunehmen und blieb lesend zu Hause.

Nun begreife ich, dass es entlang dieser Almen und Berghütten, die ich als Teenager zu verabscheuen begann, Geschichten in der Landschaft zu entziffern gibt. Sie hatten ortskundigen Widerständlern als Fluchtrouten und Unterschlupf genutzt. Die schwer zugänglichen Steige und Pfade hielten ihre Verfolger fern.     

In die Landschaft eingelagerte Gefühle

Und plötzlich bin ich wie besessen davon, mehr über die Schicksale der Frauen im Widerstand zu erfahren, interessiere mich für ihre Motive, ihre Strategien. Ich buchstabiere Namen von Berggipfeln, von denen meine Eltern stolz berichtet hatten, wenn sie von ihren Ausflügen zurückkamen. Jetzt, Jahrzehnte später, denke ich sogar daran, der Stimmung auf diesen Wegen nachzuspüren, die es in der Vergangenheit einigen wenigen Aufrechten ermöglicht hatte, gegen die Unmenschlichkeit anzugehen. 

"Erinnerung ist nicht nur das von einem selbst Erlebte, sondern ein Mosaik aus den Abdrücken, die Texte, Bilder oder Riten über Generationen in uns hinterlassen", schreibt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Ich würde die Taten hinzufügen, die Körperlichkeit und die in den Landschaften eingelagerten Gefühle. Diesen Sommer begebe ich mich ins Archiv, ich schnüre die Wanderschuhe, will mehr über weibliche Handlungsmuster im Krieg wissen, um mir die Gegend, aus der ich stamme, mit Worten endlich anzueignen und zu zeigen, dass es auch eine Tradition der Widerständigkeit gegen totalitäre Systeme gibt.

Sabine Scholl beschäftigt sich in ihren Essays, z.B. "Nicht ganz dicht" mit transnationalen Prozessen; in literarischen Werken beschreibt sie das Zusammentreffen verschiedener Sprachen und Kulturen. Ihr neuer Roman "Die Gesetze des Dschungels" schildert eine Familie zwischen Österreich, London und Sri Lanka und basiert auf wahren Begebenheiten. Das Buch erscheint im Frühjahr 2018. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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10 nach 8
 
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