In diesen Tagen kann einen
der Blick in die Welt leicht in Depressionen stürzen. Wohin man auch schaut, auf die äußere Szene oder auf die heimische, überall ist nur Auflösung zu sehen, nirgendwo Lösung.
Schon der Prediger Salomo wusste: "Ein Jegliches hat seine Zeit – brechen und bauen, (…) zerreißen und zunähen", in Luthers schlicht-schöner Übersetzung. In der Politik, der inneren wie der auswärtigen, wechseln Zeiten der Architektonik, in denen Strukturen entstehen und Systeme sich verfestigen, sich mit Zeiten ab, in denen einfache Gärtnerei ausreicht: Hecken schneiden, Unkraut jäten und ordentlich düngen; dann wieder mit Epochen, in denen zerbricht oder zerbrochen wird, was besteht. In solch einer Ära des Um-Bruchs leben wir heute.
Zunächst einmal hat
der rasante Aufstieg Chinas die alte Weltordnung verändert. Geopolitisch, geoökonomisch und technologisch fordert es den alten Westen heraus. Auf allen Feldern will die Volksrepublik Weltführungsmacht werden. Xi Jinpings Seidenstraßen-Initiative gibt der Globalisierung eine chinesische Prägung. Sein Ehrgeiz ist es, auf das amerikanische das chinesische Jahrhundert folgen zu lassen.
Die Interessen der USA und der EU sind nicht mehr dieselben Amerika aber hat sich, verhalten beginnend unter Barack Obama und nun mit brutaler Entschlossenheit unter Donald Trump, von seiner weltweiten Vormachtrolle verabschiedet. Auf seine Vertragstreue, seine Sicherheitsgarantien, die historisch gewachsene Vertrauensgemeinschaft mit Europa ist kein Verlass mehr. Die einstige Interessengemeinschaft ist dahin, und nicht nur, weil Trump zwischen Freund und Feind nicht mehr zu unterscheiden weiß. Die Interessen sind nicht mehr deckungsgleich. Aber auch die Wertegemeinschaft, angekratzt schon durch Abu Ghraib, Guantanamo Bay und Lehman Brothers, ist nicht mehr, was sie einmal war. Sie spiegelt sich allenfalls noch in den Verfassungstexten, immer weniger jedoch in Amerikas Verfassungswirklichkeit und in seinem Regierungshandeln.
Mit der Abkehr der Vereinigten Staaten von ihrer Weltordnungsrolle geht der Zerfall dessen einher, was seit dem Beginn des Kalten Krieges in den Jahren 1947/48 als "der Westen" gemeinsam Geschichte gemacht hat. Zu Recht
vermerkt Herfried Münkler, dass damit auch die Ausstrahlung und der Einfluss des Westens beendet werden. Seine normensetzende Kraft wird vor allem von Chinas alternativen Ordnungsvorstellungen geschwächt, teilweise sogar schon verdrängt.
Nach der G7 zerfetzt Trump wohl bald die WTO Der Blick auf die internationalen Institutionen kann einen auch nicht heiterer stimmen. Die Vereinten Nationen waren politisch noch nie so einflusslos wie heute. Rund um den Globus leisten sie zwar bewundernswert humanitäre Hilfe, und 110.000 Blauhelme standen 2017 als Friedenshüter in 15 Ländern, doch das Elend ist größer als ihr Vermögen, es zu beheben, und in den großen bewaffneten Konflikten stehen die UN hilflos abseits, blockiert von der Uneinigkeit der fünf Vetomächte im Sicherheitsrat. Was aber die Welthandelsorganisation (WTO) angeht, so wird sie wohl das
nächste Opfer Donald Trumps werden, der schon
die G7 zerfetzt und zu einem 6+1-Verbund reduziert hat. Auch da handelt er nach dem alten preußischen Kommissspruch: "Die ganze Kompanie hat falschen Tritt, nur der Gefreite Meier nicht."
Zerfasert bis hin zur Auflösung ist auch die Europäische Union. Wider alle Vernunft hält die Regierung May am Brexit fest.
Die Populisten in Osteuropa stellen die demokratischen Grundwerte infrage. Flüchtlingskrise und Migrationsmanagement spalten den Norden und den Süden. Und seit einem Jahr hinderten erst der Wahlkampf, dann zwei zeitraubende Versuche der Regierungsbildung und neuerdings der
Krach zwischen der CDU-Kanzlerin und dem CSU-Vorsitzenden, dem Reformdrängen des neuen französischen Präsidenten Beachtung zu schenken.
Paris und Berlin müssen zusammen eine Zukunftsvision entwickeln Überhaupt fördert der Blick auf Deutschland nichts Erhebendes zutage. Das Parteiensystem ist im Umbruch, wenn nicht überhaupt schon in der Auflösung. Das Aufkommen der AfD wäre weniger beunruhigend, wenn nicht die klassischen Volksparteien CDU/CSU und SPD beide tief in der Krise steckten: zerrissen die Union unter einer Kanzlerin, die ausgelaugt ist bis zur Handlungsunfähigkeit, faktisch gespalten die Schrumpf-SPD bis zur Regierungsunfähigkeit. Und beide streitsüchtig bis aufs Heft. Dem normalen Verstand will es jedenfalls nicht einleuchten, dass ein Kompromiss nicht von Anfang an möglich gewesen sein sollte: Angela Merkel erhält Zeit bis nach dem EU-Gipfel Ende Juni, um eine
vertretbare Asyllösung zu erreichen; misslingt ihr dies, wird das Seehofer-Projekt auf den Weg gebracht.
Wenn Europa sich behaupten will in der neuen Weltunordnung, muss die Bundesregierung endlich aus der Ecke der ewigen Zweifelsscheißerei heraus, um einen passenden Wiener Ausdruck zu benutzen. Paris und Berlin müssen
zusammen eine Zukunftsvision entwickeln, die sie dann nach Karl Poppers Prinzip des
piecemeal social engineering schrittweise verwirklichen. Sie müssen freilich auch die anderen EU-Mitglieder mitnehmen. Das geht nur durch Überzeugung. Doch ist der Versuch dazu kein hoffnungsloses Unterfangen angesichts der drei gewaltigen Herausforderungen, vor denen Europa steht.
Die EU sollte den Dialog mit Moskau nicht Trump überlassen 1. Die Brüsseler Gemeinschaft muss sich auf ein neues Verhältnis zu den Vereinigten Staaten einstellen. Eine Sonderbeziehung zwischen den USA und Europa wird bleiben, doch die fraglose und klaglose Verbundenheit von ehedem wird schwerlich wiederkehren. Donald Trump verkörpert nur eine besonders rüde und manierenlose Erscheinungsform eines Entfremdungstrends, der sich durch die demografische Entwicklung, zumal die zunehmende Hispanisierung, weiter verstärken wird. Zunächst einmal wird es darum gehen, dem
Handelskrieger Trump entschlossen und geschlossen entgegenzutreten.
2. Die EU braucht ein
realistisches Verhältnis zu ihrem großen Nachbarn Russland. Sie sollte den Dialog mit Moskau nicht der Nato oder – schrecklicher Gedanke – Donald Trump überlassen und ihn auch nicht bloß auf das Ukraine-Problem beschränken. Vonnöten ist eine umfassende Auslotung künftiger Partnerschaftsmöglichkeiten, wobei europäische Modernisierungshilfe und sicherheitspolitische Übereinkünfte, die auch Polen und die baltischen Republiken zufriedenstellen, in ein Gleichgewicht gebracht werden müssen.
Europa muss flexible Solidarität üben 3. Die Europäer müssen auch ihr Verhältnis zu dem aufsteigenden und auftrumpfenden China neu definieren. Etiketten wie "strategische Partnerschaft" reichen da nicht aus. Es braucht
klare Absprachen über gleichberechtigten Marktzugang, den Schutz intellektuellen Eigentums und die ausufernde chinesische Subventionspolitik. Auch muss sich die EU darüber klarwerden, wo und wie weit sie an Pekings Seidenstraßenprojekt teilhaben soll – aber auch, wo und wie weit sie ihm entgegentreten sollte (auf dem Balkan etwa, wo die Chinesen dabei sind, einen Brückenkopf zu bilden, von dem aus sie einen Keil in die EU treiben). Zugleich jedoch ist eine enge Zusammenarbeit mit ihnen in Sachen Freihandel und Klimaschutz anzustreben.
In der Europäischen Union wird es darauf ankommen, flexible Solidarität zu üben. Gegenüber Russland und China empfiehlt sich das Prinzip der "kompartmentalisierten Kooperation". Diesen Begriff hat Thomas Bagger geprägt, der frühere Planungschef des Auswärtigen Amts und derzeitige Außenpolitikberater des Bundespräsidenten: Man nimmt hin, dass man sich nicht einigen kann, wo die Interessen auseinanderlaufen, arbeitet aber Hand in Hand, wo sie übereinstimmen.
Auch das wird freilich nicht funktionieren, wenn überall Auflösung waltet. Politik muss Lösungen schaffen. Für Deutschland, für Europa heißt das, dass nach all dem "Brechen" und "Zerreißen" wieder "Bauen" und "Zunähen" das politische Handeln bestimmen müssen.