Fünf vor 8:00: Die EU ist unsere Stimmkarte - Die Morgenkolumne heute von Michael Thumann

 
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FÜNF VOR 8:00
29.06.2018
 
 
 
   
 
Die EU ist unsere Stimmkarte
 
In einer unilateralen Welt würde Deutschland zur Kolonie werden wie alle anderen Europäer auch. Kann es sein, das deutsche Politiker wie Markus Söder das nicht wissen?
VON MICHAEL THUMANN
 
   
 
 
   
 
   
Haben die eigentlich gar keine Angst? Munter treiben Markus Söder, Horst Seehofer und Alexander Dobrindt ihr Zerstörungswerk voran. Die Zuwandererzahlen sind seit 2015 radikal gesunken, aber schon wieder reden wir nur über Flüchtlinge. Schon wieder wollen bestimmte Politikerinnen und Politiker nicht mehr mit der Kanzlerin arbeiten. Schon wieder geht es um Glaubwürdigkeit und kleinste Kleinigkeiten, an denen sie angeblich hängt.
 
Erst war es der Lindner von der FDP, dann die SPD mit ihren zahlreichen Selbstbefragungen, jetzt die Söder-CSU. Alle haben ein Problem, die großen Herausforderungen anzunehmen – und achten lieber auf ihre Linie und wie sie aus alledem glatt herauskommen. Das scheint ihre einzige Angst zu sein.
 
Geht das Unionsdrama so weiter, wird Deutschland wieder keine Regierung haben. Und das vielleicht länger, als wir alle denken. Ein Vakuum wird entstehen, das andere füllen, zum Beispiel die AfD. Es ist ja ein Trugschluss anzunehmen, dass die AfD stärker wird, weil man regiert und diese oder jene Entscheidung trifft. Sie wird vor allem dann stärker, wenn man nicht regiert. Genau das ist die Folge des Söder-Kurses.
 
Trump wird Deutschland offen angreifen
 
Es geht dabei überhaupt nicht um Merkel. Ob sie Kanzlerin bleibt oder irgendwann die geordnete Nachfolge eingeleitet wird, ist am Ende nicht so entscheidend. Wichtig ist allein eine handlungsfähige Regierung. Eine, die die stark bedrohten Interessen unseres Landes in der Welt vertritt. Es ist, als wollten die CSU-Politiker mit dem Flüchtlingsthema selbst  vor den wirklichen Herausforderungen flüchten.
 
Wir leben in einer Zeit historischer Umwälzungen. Donald Trump hat das Bündnis der G7-Staaten Anfang Juni ruiniert. Wenn sich die Europäer nicht mit Japan und Kanada auf G6 einigen, wird davon kaum etwas übrig bleiben. Trump holt indes schon zum nächsten Schlag aus. Er wird Mitte Juli auf dem Nato-Gipfel aller Voraussicht nach die westliche Allianz nachhaltig beschädigen. Er wird Deutschland offen angreifen, wegen der geringen Ausgaben für Verteidigung, er kann dann "die Schulden" der Bündnispartner zum Anlass nehmen, das Bündnis zu entwerten.
 
Umdenken in den Köpfen
 
Denn eine Verteidigungsallianz beruht nicht nur auf Waffen, sondern auf der Glaubwürdigkeit, sie notfalls einzusetzen. Trump wird sich nach dem Nato-Gipfel gleich mit Wladimir Putin zu einem Männergespräch treffen. Dieses Treffen dürfte große Zweifel hinterlassen, ob Trump Europa im Falle eines Falles noch verteidigen wird.
 
Deutschland und Frankreich werden sich um ihre Verteidigung künftig im Wesentlichen selbst kümmern müssen. Man kann nur hoffen, dass das im EU-Rahmen möglich sein wird. Schon das wird tiefes Umdenken in deutschen Köpfen erfordern. Aber es könnte noch dramatischer und einsamer werden, wenn die EU selbst auseinandertreibt.
 
Die Rechtsextremisten, Populistinnen und Populisten erobern Land um Land in Europa. Sie herrschen schon in Ostmitteleuropa, jetzt breiten sie sich in Mitteleuropa aus, zuletzt fiel Slowenien. Sie bekämpfen das Europa, das über sechzig Jahre aufgebaut wurde. Sie wollen zurück in die Kleinstaatlichkeit, mit Grenzkontrollen, Wächterhäuschen und Warteschlangen. Sie wollen 27 Währungen, 27 Kleinstaaten, 27 Armeen, die vor allem gegeneinander gerichtet sind. Darum werden sie als Camouflage eine Europafahne hängen, die nichts mehr bedeutet.
 
Markus Söder hat entsprechend schon "das Ende des geordneten Multilateralismus" ausgerufen – und findet das offenbar gut. Weiß der Mann, wovon er redet? Multilateralismus ist keine Lieblingsidee von Linksliberalen, er hat nichts mit links, rechts, weltoffen oder traditionsbewusst zu tun. Multilateralismus ist deutsches Kerninteresse in der Welt.
 
Deutschland zur Kolonie
 
Der Wiederaufstieg der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg war nur möglich, weil die Amerikaner eine multilateral organisierte, regelbasierte Welt förderten. Zumindest in einer Hälfte. Das ließ uns politisch wie wirtschaftlich blühen. Seitdem die Europäische Union als, wenn auch stets gehemmte, Akteurin auf die Bühne getreten ist, hat der Multilateralismus für uns einen festen Ort.
 
In einer Welt, in der die Bedeutung des Westens rapide abnimmt, ist diese EU so etwas wie unsere Stimmkarte auf dem Erdball. Europa schützt uns Kleinstaaten. Einrichtungen wie die EU, die Vereinten Nationen, internationale Gerichtshöfe und Institutionen garantieren Staaten wie Deutschland Mitspracherecht. Ländern, die keine Atomraketen und keine global agierende Armee haben. In einer Welt des regellosen Unilateralismus würde Deutschland zur Kolonie werden, wie alle anderen Europäer auch.
 
Kann es sein, dass deutsche Politiker wie Markus Söder das nicht wissen? Dass sie vergessen haben, was deutsches Kerninteresse ist? Das würde mir noch mehr Angst machen.
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.