| | Der ukrainische Regisseur Oleh Senzow © Sergey Pivovarov / Reuters |
Essen. Als Kind aß ich viel zu viel, weil ich entdeckt hatte, dass es unglaublich angenehm ist, voll zu sein, man fühlt sich sicher, geschützt, sorglos. Essen hat weniger mit Ernährung und Überleben zu tun, sondern viel mehr mit Beruhigung, es tröstet und entspannt. Sehr oft nach dem üppigen Feiertagsessen hatte ich schreckliche Bauchschmerzen und musste in der Nacht erbrechen, dennoch habe ich es nie bereut, und wenn sich wieder eine Möglichkeit ergab, das schmackhafte Salzige mit dem noch schmackhafteren Süßen, Scharfen, Sauren oder gar Geschmacklosen zusammen in den Hals zu stopfen, tat ich es ohne zu zögern. Essen macht glücklich. Manchmal mehr als Liebe oder Geld. Ich kenne Menschen, die ihr ganzes Vermögen für gutes Essen ausgeben, sie essen wie Könige. Ich kenne auch solche, die ihre Liebe für den Bauch opfern und die dortbleiben, wo es genug zu essen gibt. Liebe vergeht und essen will man jeden Tag, pflegte meine Oma zu sagen. Sie liebte nur das Essen. Sonst liebte sie niemanden. Als sie sechs war, brach in der Ukraine die von Stalin organisierte Hungersnot aus. Omas Vater, früher ein reicher Bauer, ließ die Tochter vor den Stufen eines Kinderheimes zurück und ging fort, wie er sagte, um Brot zu holen. Das waren seine letzten Worte. Die Tochter wartete mehrere Stunden auf ihn und weigerte sich, das Heim zu betreten, auch wenn die Erzieherinnen sie dazu zwingen wollten. „Mein Vater kommt doch bald“, rief sie hysterisch, „er holt das Brot und kommt.“ Sammeln, sparen, sparsam verteilen Im Heim aß meine Oma jeden Tag eine Bohnensuppe, in der keine Bohnen mehr zu finden waren, nur Wasser. Dann sammelte sie Zwetschgensteine auf dem Markt, knackte sie und aß den Kern. Dann, als die Zwetschgensteine aus waren, aß sie Pflanzen, meistens Gänsefuß, oder auch Lindenblätter, worüber sie später oft erzählte. Ich fragte, wie schmeckten Lindenblätter? Die Oma antworte: bitter. Und wenn sie keine Pflanzen mehr fand, aß sie nichts. Menschen um sie herum fielen auf den Straßen um wie Stoffpuppen, ihre Körper waren seltsamerweise nicht abgemagert und dünn, sondern sehr dick und angeschwollen, als hätten sie sich umgekehrt zu Tode gefressen. Niemand räumte die dicken Leichen weg, weil diejenigen, die das machen sollten, auch bereits tot waren. Millionen sind gestorben. Manche, und auch meine Oma, überlebten, um ihr ganzes weiteres Leben Trauzeugen einer Nahrungskirche zu sein. Essen wurde für sie zu Gott erhoben, einem Gott, der unter schlechten Umständen wieder zu verschwinden drohte. Man musste aufpassen und die Speisekammer möglichst voll behalten. Man musste sammeln, sparen, sparsam verteilen, nicht erlauben, verstecken, jahrelang im Kühlschrank aufbewahren. Das alles tat meine Oma. Sie aß schnell und ohne Genuss, sie verschluckte Teigtaschen oder Kartoffelpuffer, ohne den wirklichen Geschmack zu bemerken, egal, ob kalt oder heiß, frisch oder bereits verdorben. Nach der Mahlzeit wischte sie mit Ehrfurcht Brotbröseln vom Tisch, schmiss sie in den Mund und befahl mir, dasselbe zu machen. Ich weinte, da ich nicht mehr hungrig war. Und der Tisch schien mir gar nicht sauber zu sein. Sie sagte streng: Bald kommt wieder der Hunger und du wirst sehen, wie schön das ist, nichts zu essen zu bekommen, dann wirst du dich nach diesen Bröseln sehnen! Ich dachte manchmal, sie selbst sehnte sich nach einer erneuten Hungersnot, vielleicht wollte sie wieder eine Katastrophe erleben, die ihr Wesen bestimmte. Es ist erniedrigend an Hunger zu sterben, es ist auch erniedrigend zu sehen, wie die anderen an Hunger sterben. Oder wollte meine Oma den unbesonnenen Nachkömmlingen den erworbenen Glauben weitergeben, ihren furchtbaren Gott zeigen?
...
Den ganzen Freitext finden Sie auf ZEIT ONLINE.
Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
|