Fünf vor 8:00: Es geht um mehr als Merkel - Die Morgenkolumne heute von Peter Dausend

 
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FÜNF VOR 8:00
18.06.2018
 
 
 
   
 
Es geht um mehr als Merkel
 
Der Streit um die Asylpolitik kann über Merkel, aber auch die Zukunft des Landes entscheiden. Wird das völkische Denken der AfD weiter in bürgerliche Kreise einsickern?
VON PETER DAUSEND
 
   
 
 
   
 
   
Wenn heute Vormittag der CSU-Vorstand in München zusammentritt, geht es vordergründig um den Streit mit der Kanzlerin um die Asylpolitik. Doch in Wahrheit geht es um viel mehr: um vier zentrale Fragen, die über die Zukunft dieses Landes entscheiden. Die erste ist hochaktuell, die zweite von der ersten abhängig, und die beiden restlichen entfalten ihre ganze Sprengkraft erst auf mittlere Sicht. Im Einzelnen lauten sie:
 
1. Bricht die große Koalition in Berlin auseinander, und wie geht es dann weiter?
 
2. Welchen Einfluss hätte ein Koalitionsbruch auf die politische Landschaft in Deutschland?
 
3. Erleben wir das schleichende Ende des Multilateralismus und die Renationalisierung in Europa?
 
4. Wird völkisches Denken in Deutschland wieder salonfähig?
 
Zu 1: Fordert der CSU-Vorstand Innenminister Horst Seehofer dazu auf, sein Vorhaben, Flüchtlinge an den deutschen Grenzen zurückweisen zu lassen, die schon in einem anderen EU-Land Asyl beantragt haben oder bereits schon mal aus Deutschland ausgewiesen wurden, in die Tat umzusetzen, steuert der Machtkampf mit der Kanzlerin auf seinen ultimativen Kulminationspunkt zu. Angela Merkel sperrt sich entschieden gegen einen nationalen Alleingang, strebt eine europäische Lösung an. Ignoriert Seehofer Merkels Einwand, verstößt er gegen die Richtlinienkompetenz der Regierungschefin. Merkel müsste ihn entlassen. Daraufhin zöge die CSU wohl ihre Minister aus der Regierung ab. Die Koalition wäre am Ende. Was dann?
 
Wer knickt ein?
 
Merkel könnte versuchen, die CSU durch die Grünen zu ersetzen oder im zweiten Anlauf doch noch ein Jamaika-Bündnis hinzubekommen, ohne die CSU. Dass das gelingt, erscheint aber als höchst unwahrscheinlich. Ein Großteil der CDU-Abgeordneten steht bei der Migrationspolitik inhaltlich eher hinter Seehofer als hinter der eigenen Parteichefin. Die harte Linie der CSU durch die liberale Haltung der Grünen zu ersetzen, diese Idee dürften sie kaum mittragen. Am Ende stünden Neuwahlen und das Ende der Ära Merkel.

Möglich auch, dass die CSU der Kanzlerin heute noch mal zwei Wochen Frist bis zum EU-Gipfel gewährt. Da Merkel aber in 14 Tagen kaum schaffen dürfte, was ihr in drei Jahren nicht gelungen ist – eine europäische Lösung im Asylstreit auszuhandeln –, stehen CSU und Merkel Ende Juni vor derselben Frage wie jetzt: Wer knickt ein? Knickt keiner ein, gilt das oben beschriebene Szenario. 
 
Zu 2: Oberste Prämisse jedes CSU-Handelns lautet: Wir tun alles, um die absolute Mehrheit in Bayern zu halten. Allein auf der unumschränkten Herrschaft im wirtschaftlich stärksten Bundesland basiert der Anspruch der CSU, die Bundespolitik mitgestalten zu wollen. Verliert sie die absolute Mehrheit, verliert sie auch diesen Anspruch. Das Aufkommen und Erstarken der AfD gefährdet nun beides, die Alleinherrschaft in Bayern wie den Gestaltungsanspruch im Bund.
 
Die AfD mit ihrer eigenen Rhetorik zurückzudrängen – dieser Versuch ist misslungen. In den jüngsten Umfragen schrumpft die CSU, und die AfD wächst. Wenn Worte allein nicht reichen, muss man handeln, denkt sich die CSU. Und das Handeln beschränkt sich nicht nur darauf, Seehofers Masterplan zur Migrationspolitik umzusetzen. Der eigentliche Akt besteht darin, Merkel zu stürzen.
 
Söders Bayern-über-alles-Haltung
 
Die Kanzlerin ist in den Augen der CSU die Verkörperung jener Politik, die die AfD groß und die CSU zu klein gemacht hat. Merkel muss weg, damit die CSU Bayern halten kann. Das ist die eigentliche Motivation der Christsozialen.
 
Die CSU möchte den nationalen Raum besetzen und die AfD dadurch in jene Ecke drängen, in der sich nur noch ultrarechte Wirrköpfe drängeln. Die CDU wird das kaum mitmachen, sodass mehr zerbrechen wird als nur die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU im Bundestag. Gut möglich, dass bei der nächsten Bundestagswahl die CSU bundesweit antritt und die Menschen in Bayern auch die CDU wählen können. Aus Schwestern würden Rivalinnen.
 
Zu 3: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat Ende vergangener Woche – gewissermaßen im Vorbeigehen – einen verbalen Anschlag auf die EU verübt. Deutschland müsse nun allein handeln, die Zeit des "geordneten Multilateralismus" sei abgelöst. Söder gibt damit den Bayern-Trump(el).
 
Nicht die AfD ist das Problem
 
Die Ansicht, eine breite internationale Kooperation gehe stets zulasten der Starken, ist die Basis von Trumps "America first"-Kampagne. In Söders Bayern-über-alles-Haltung spielt er nun die nationale Karte aus. Seine unausgesprochene Botschaft: Wir Deutschen waren lange genug die Deppen; wir sind der Zahlmeister der Europäischen Union und tragen die Hauptlast der globalen Wanderungsbewegungen. Damit ist nun Schluss! Wir schauen jetzt zuerst mal auf uns selbst.
 
Damit stellt Söder mal eben mehr als 70 Jahre deutsches Selbstverständnis infrage: Die Zukunft des Landes liegt in Europa. Dem Rückfall in den Nationalismus ebnet er damit den Weg.
 
Zu 4: Nicht die AfD ist das Problem, sondern das völkische Denken, das sie verkörpert. Sollte es der CSU tatsächlich gelingen, den nationalen Raum zu besetzen und die AfD zu verdrängen, wird sie Teile dessen, was die AfD denkt, sagt und politisch fordert, übernehmen müssen. Das völkische Denken wird dadurch nicht zurückgedrängt, es sickert stärker in bürgerliche Kreise ein. Man wird dann ja wohl mal noch sagen dürfen, dass Özil und Gündoğan keine echten Deutschen sind und ein Boateng doch eher für die Nationalmannschaft Ghanas spielen sollte.
 
Anscheinend träumen Söder und die CSU von einem Deutschland, in dem man nicht einen US-Präsidenten Barack Obama beim Staatsbesuch feiert, sondern den ungarischen Autokraten Viktor Orbán.
   
 
   
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