10 nach 8: Anna Mayrhauser über Fehlgeburten

 
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18.06.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Und wenn das Bettchen leer bleibt?
 
Fehlgeburten galten lange Zeit als Tabu. Das ändert sich gerade. Eine offene Auseinandersetzung mit Geburt und Tod ist wichtig für alle werdenden Eltern.
VON ANNA MAYRHAUSER

Über glücklose Schwangerschaften schreibt man offenbar nur, wenn man schon Kinder hat oder es dann doch irgendwann geklappt hat. © Freestocks/unsplash.com
 
Über glücklose Schwangerschaften schreibt man offenbar nur, wenn man schon Kinder hat oder es dann doch irgendwann geklappt hat. © Freestocks/unsplash.com
 

Ich lebe in einer Gesellschaft, in der Frauen bis 30 mitgeteilt wird, dass sie auf keinen Fall schwanger werden dürfen, und ab 30, dass sie es jetzt sofort tun müssen. Das kann, wenn man so wie ich 35 Jahre alt und kinderlos ist, ganz schön anstrengend sein. Fürs Kinderkriegen ist man irgendwie immer falsch: zu jung, zu alt, zu arm, zu karrieretauglich, zu verantwortungslos und – wenn es dann doch geklappt hat – zu prenzlauerbergmuttimäßig.

Unser Bild vom Kinderkriegen ist normiert: Es soll in der heterosexuellen Kleinfamilie stattfinden, am besten nach einem Studium und nach zwei bis drei Jahren Lohnarbeit, zwischen Ende 20 und Anfang 30. Dann bitte als Frau ein Jahr zu Hause bleiben, nicht länger und nicht kürzer, und zwei Kinder mit einem Altersabstand von zwei, eventuell drei Jahren bekommen, wenn möglich, ein Junge und ein Mädchen. Alles andere wirft Fragen auf.

Diese Normierung beginnt schon mit unserem Bild von Schwangerschaft, die öffentlich ebenfalls nur nach einem Schema laufen soll: Die schwangere Frau soll nicht jammern, bitte sportlich bleiben, nicht zu sehr zunehmen, arbeitstechnisch einsatzfähig bleiben, aber auch nichts tun, das die Schwangerschaft irgendwie gefährden könnte. Schwangerwerden soll geplant sein, aber zu verkrampft darauf hinzuarbeiten wäre auch irgendwie uncool. Dass Schwangerschaft nicht immer so läuft und auch darüber, was dabei alles schiefgehen kann, lernen wir gerade erst zu sprechen – in Film, Literatur, in Medien und auf Social Media.

Denn 15 Prozent aller festgestellten Schwangerschaften enden mit einer Fehlgeburt, bei noch nicht bekannten Schwangerschaften sind es je nach Quelle sogar bis zu 50 Prozent. Angesichts dieser Häufigkeiten sind Fehlgeburten immer noch ein Tabuthema, erst langsam beginnt sich unser Bild von ihnen zu verändern.

In Filmen und Serien kommen Fehlgeburten kaum vor. Und wenn, dann meistens so wie etwa im US-amerikanischen Spielfilm Sieben verdammt lange Tage oder in der österreichischen Serie Der Aufschneider: Ein Pärchen – sie ist schwanger – macht eine schwierige Phase durch. Die Schwangerschaft war vielleicht nicht geplant, auf jeden Fall stiftet sie jetzt Chaos und Verwirrung. In einer Phase der Entfremdung (er ist ausgezogen und sortiert seine Plattensammlung, sie hat was mit dem Agenturkollegen), erreicht ihn dann plötzlich der Anruf einer gemeinsamen Freundin: Blutungen sind eingetreten, die Frau liegt im Krankenhaus, nichts wie hin.


Dort angekommen, vollzieht sich in klinisch-sauberer Atmosphäre die wundersame Wandlung. Der Arzt kommt innerhalb von fünf Minuten von "Wir können keinen Herzschlag finden" zu: "Alles ist okay, ich konnte zwar gerade eben nicht mal den Herzschlag sehen, aber jetzt, ganz plötzlich, erkenne ich sogar die Geschlechtsteile ihres Kindes, Glückwunsch, es ist ein Mädchen." Das Paar erkennt, was wirklich wichtig ist im Leben, Happy End.

Eine weitere Variante, wie sie etwa in der Serie Sex and the City vorkam: Anhand einer Serienfigur soll das Thema Schwangerschaft, Kinderwunsch oder ungewollte Schwangerschaft verhandelt werden. Da man aber gerade kein Kind im Erzählstrang gebrauchen kann und eine Abtreibung moralisch nicht vertretbar wäre, schreibt man eine Fehlgeburt ins Drehbuch. Diese wird allerdings nur durch den traurigen Blick eines Arztes sichtbar. Nachdem die Figur zwei Tage in der Jogginghose Eis essend auf dem Sofa verbracht hat – genrekonform also ähnlich bebildert wie ein kleiner Liebeskummer – ist die Sache erledigt. Strahlend geht es zurück in den Alltag.

Nun ist es vielleicht müßig, darauf herumzureiten, dass nicht alle Werke der Popkultur Situationen wie diese authentisch widerspiegeln – und das auch gar nicht müssen. Doch gibt es in der medialen und auch künstlerischen Darstellung von Fehlgeburten definitiv Entwicklungsbedarf. Das Leben wäre schöner, wenn wir ehrlicher über Schwangerschaft und Geburt, aber auch das Ende des Lebens sprechen könnten.

Dass es diesen Bedarf gibt, zeigen die gängigen deutschsprachigen Beratungs- und Informationsseiten rund um Schwangerschaft und Geburt, deren Familienbild ohnehin oft an graue Vorzeiten gemahnt. Deren Foren quellen über vor Erfahrungsberichten und – oft auch – abstrusen Fragen zum Thema. Es ist einfach, sich über die Frauen, die sich hier austauschen, und ihre Ängste lustig zu machen, über die fürchterliche Sprache und Abkürzungskultur, über die KiWus (Frauen mit Kinderwunsch), SSs (Schwangerschaftswochen) und den berühmten GöGa (Göttergatten). Aber sie müssten nicht die Foren mit ihren Ängsten vollschreiben, wenn sie Ärztinnen und Hebammen hätten, die sich um ihre Belange kümmern würden – und länger als zwei Minuten Zeit für ihre Fragen hätten.

Selbst betroffen ist keine

Selbst auf konventionellen Elternblogs werden Fehlgeburten oft nur in Form eines Gastbeitrags verhandelt: Die stets glückliche Elternbloggerin kennt eine, die eine kennt. Selbst betroffen ist keine, zumindest spricht sie nicht darüber. Auf Instagram werden Schwangerschaften sorgfältig inszeniert, mit spießiger Hingabe in Schwangerschaftsshootings, bei denen natürlich alles weiterhin glatt und straff sein muss, außer dem Babybauch im sanften Licht. So wird schnell übersehen, dass es auch dort eine dunklere Seite gibt, eine, die sich unter Kinderwunsch-Hashtags wie #kiwu verbirgt, eine, in der Frauen mit Kinderwunsch nach Fehlgeburten ihre vollgepinkelten Schwangerschaftstests in die Kamera halten und ihre Followerschaft nötigen, Linien zu erkennen, wo keine Linien sind. Auch darüber kann man irritiert sein: Die Vernetzung betroffener Frauen, die hier ihren Platz findet, die Trauer, die hier Raum findet, weil sie sonst nicht sein darf, kann ein echter Ausweg sein.

Als ich vor einigen Jahren das erste Mal zum Thema recherchierte, fand ich nur wenige Informationen abseits von Erklärungen auf Medizinportalen. Die wenigen journalistischen Erfahrungsberichte waren interessanterweise oft aus männlicher Perspektive geschrieben – oft sehr berührend, doch, wie es ein anonymer Autor in einem Bericht über die stille Geburt seines Kindes festhielt: "Es war nicht mein Körper." Ich fand ein beeindruckend differenziertes Essay zur Pränataldignostik von Eva Menasse. Das war's.

Mittlerweile ist das anders und das ist gut. Allein auf Plattformen wie Edition F finden sich auf den ersten Blick mehrere Artikel zum Thema. Immer mehr betroffene Eltern, vor allem Mütter, sprechen und schreiben auch darüber, oft verwoben mit Themen wie Pränataldiagnostik und Behinderung. Ein Tabu scheint dennoch geblieben zu sein. Über glücklose Schwangerschaften schreibt man nur, wenn man schon Kinder hat oder es dann doch irgendwann geklappt hat. Berichte von Menschen, die kinderlos bleiben, sind rar. Vielleicht weil es schwer ist, mit einem ebenso intimen wie schmerzhaften Ereignis in die Öffentlichkeit zu gehen – wenn man es nicht mit einem vermeintlichen Happy End auflösen kann. 


Vor einigen Monaten fiel mir zufällig an meinem Arbeitsplatz ein Rezensionsexemplar eines Schwangerschaftsratgebers aus dem Kösel-Verlag in die Hände. Sensibilisiert für das Thema, überfliege ich routinemäßig das Glossar, finde das Stichwort "Fehlgeburt" und schlage die dazugehörige Seite auf. Der Ratgeber widmet dem Thema eine ganze Seite. Auf dieser steht sinngemäß: "Es passiert, es passiert häufig und niemand ist schuld daran. Es gibt nichts, was Sie dagegen machen können."  

Trauer, Unsicherheit, Wut

Diese einfachen Worte empfinde ich, und wahrscheinlich auch andere Betroffene, als große Erleichterung. Doch warum diese Hervorhebung? Klingt das nicht ziemlich standardisiert? Ist das nicht das Mindeste, was man von einem Ratgeber erwarten kann? Erstaunlicherweise nicht. Obwohl konventionelle Schwangerschaftsratgeber sich gern ausführlich Horrorszenarien hingeben über die Gefahren der seltenen Toxoplasmose, ausgelöst von einem Parasiten, der im ersten Drittel der Schwangerschaft Beeinträchtigungen des Kindes hervorrufen kann und unter anderem in Ziegenkäse und Leberwurst lebt. Das Thema Fehlgeburt kommt hingegen häufig nur als Ausnahme vor, als etwas, das nur in sehr, sehr seltenen Fällen passiert.


Deshalb tut es so gut, wenn es mittlerweile auch in Film und Literatur immer häufiger Erzählungen gibt, in denen Fehl- und stille Geburt mehr sind als ein Plot-Twist: Berichte von Trauer, von Unsicherheit in einer Gesellschaft, die suggeriert, dass man alles planen kann, von Wut, vom Tod und der Körperlichkeit des Geburtsvorgangs. Etwa in Filmen wie 24 Wochen von Anne Zohra Berrached aus dem Jahr 2016, in dem es allerdings um eine Spätabtreibung geht.

Die Schriftstellerin Gertraud Klemm beschreibt in ihrem Buch Müttergehäuse, in dem sie auch von ihren Fehlgeburten erzählt, wie sie auf einen Schwangerschaftstest menstruiert. Das ist lustig und traurig und zeigt, dass man in einer Welt, in der Schwangerschaft in der Öffentlichkeit möglichst lässig, unverkrampft und möglichst nebenbei stattfinden soll, nicht allein ist. Mit ihrem Memoire Gegen alle Regelnerregte auch die Autorin und Journalistin Ariel Levy großes Interesse, indem sie von der Frühgeburt ihres Kindes erzählt, das wenige Stunden nach der Geburt stirbt.

Neue Narrative eröffnet auch die Theatermacherin Alisa Tretau mit dem von ihr herausgegebenen Buch Nicht nur Mütter waren schwanger, das im Herbst erscheinen wird, in dem sie einige dieser ungehörten Perspektiven auf Schwangerschaft gesammelt hat, von lesbischen Frauen, von Transmännern, vom "späten" Kinderwunsch. In einem Vorabauszug mit dem Titel "Für immer scheinschwanger" schreibt sie über die zahlreichen Narrative, die sich die Gesellschaft und meine Generation, die der knapp über 30-Jährigen, über das Schwangerwerden schafft. Und dann: "Wer daneben unsichtbar bleibt, sind Personen wie ich. Die, die sich Kinder wünschen, aber so schnell keine bekommen und sich dann konstant fragen, warum es nicht 'einfach so' passiert."

Wenn man "Filme, in denen eine Fehlgeburt vorkommt" googelt, landet man auch bei Horrorklassikern wie Rosemary's Baby (eine Frau, die nach einer Fehlgeburt das Kind des Teufels austrägt) oder Das Omen (eine Frau, die eine Fehlgeburt hatte, bekommt das Kind des Teufels untergeschoben). Das mögen zwar schöne Metaphern dafür sein, dass das Dunkle immer in uns selbst wohnt, es zeigt aber auch, dass wir neue Geschichten dringend brauchen.

Anna Mayrhauser, geboren 1983 in Linz, Österreich, ist Chefredakteurin des "Missy Magazines". Sie lebt in Berlin und schreibt am liebsten über Kultur und Gesellschaft.


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