10 nach 8: Heike-Melba Fendel über Emotionen

 
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08.06.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Die Diktatur des Bauchgefühls
 
Ob Mitleid für heulende Torhüter, Rührung über heiratende Adelige oder Zorn über pöbelnde Rechte: Wer fühlt, hat recht. So schaffen wir Verantwortung ab.
VON HEIKE-MELBA FENDEL

Wer fühlt, hat nicht automatisch recht. © Francisco Moreno/unsplash.com
 
Wer fühlt, hat nicht automatisch recht. © Francisco Moreno/unsplash.com
 

Der neue Mathematiklehrer schreibt seinen Namen an die Tafel. Er heißt Peter Baukloh und trägt seinen Pullunder aus Alpakawolle versehentlich falsch herum. Für unsere Probleme, so sagt er, werde er stets ein offenes Ohr haben. Wir malen eine Toilettentür unter seinen Namenszug und schmeißen uns weg.

Die sozialdemokratische Bildungsreform hatte der Stadt Köln Anfang der 1980er-Jahre eine Gesamtschule im Problembezirk Köln-Chorweiler beschert. Der ältere Teil des Lehrkörpers hatte das einstige Gymnasium nahezu vollständig verlassen und wir Schüler standen mit Herrn Baukloh und seinesgleichen in der Raucherecke und diskutierten über unsere Schulnoten. Vor allem die mündlichen. Die machten 50 Prozent der Gesamtnote aus und hatten also, im Falle von Versetzungsgefahr, große Bedeutung. Wir fanden schnell eine Methode, um "Peter" dazu zu bringen, diese Noten zu unseren Gunsten anzuheben: Wir machten aus schnödem Versagen ein emotionales Dilemma. Die Angst, etwas Falsches zu sagen und von den anderen ausgelacht zu werden. Auch streitende Eltern ließen uns angeblich verstummen. Oder, das effektivste Argument: "Peter, ich habe das Gefühl, du hast etwas gegen mich, dabei habe ich mir unheimlich Mühe gegeben."

Unser spätpubertäres Instrumentalisieren des SozPäd-Gekuschels früher Jahre sollte sich als zukunftsweisend entpuppen. Auf dem Schulhof von Köln-Chorweiler nahmen wir eine heute als alternativlos akzeptierte emotionale Kriegsführung vorweg: Das Gefühl als kollektiv eingesetztes Totschlagargument. 

Wer gesund ist, zeigt Gefühle

"Ich hab' da so ein Gefühl", sagt die junge Polizistin zu ihrem Kollegen im Dienstwagen. "Dann schreib' a Gedicht",  gibt der zurück. Was in der ZDF-Reihe München Mord ein lässiger oneliner ist, wäre im wahren Leben ein Fall für vorhandene oder zu installierende Harassment-Beauftragte. Gefühle verletzen geht nämlich nicht, weibliche erst recht nicht. Im Fernsehen darf man das auch nur, wenn der Befund einer sich derart dysfunktional verhaltenden Figur Asperger-Syndrom lautet. Jener Defekt also, von dem man nicht recht weiß, ob es ihn gibt und, wenn ja, wie viele Menschen daran leiden. Schätzungen pendeln zwischen 0,15 und 0,25 aller Menschen ab vier Jahren. Die Autismus-Variante ist dramaturgisch attraktiv. Sie blockiert Gefühle, befeuert jedoch Hochbegabung. Seit Sofia Helin als emotionslose Kommissarin die skandinavische Serie Die Brücke zum Erfolg geführt hat, ermitteln auch hierzulande ständig weitere Kollegen mit starrem Blick und freudloser Brillanz.

Beherrschtheit und hohe Intelligenz verweisen also auf eine seltene Krankheit. Wer gesund ist, hat Gefühle, zeigt Gefühle und bekommt Gefühle zurück. Das ist alles, was zählt.

Plappernd putzige Liebesstrateginnen

Im Fernsehen allemal, wo Gefühle "emotionale Momente" heißen. Und seit dem Siegeszug der privaten Fernsehsender mit Beginn der 1990er-Jahre in Formate wie Verzeih mir oder Nur die Liebe zählt gegossen wurden. Die Castingshows waren ebenso als tearjerker konzipiert wie Doku-Fiction über possierliche Vierbeiner – Tier zuliebe – oder die "persönlichen" Talkformate, die seit den Nullerjahren die Programme mit Rotz und Wasser fluten.

Auch im Kino setzte sich die Erkenntnis durch, dass es die Frauen sind, die entscheiden, was geguckt wird – Stichwort date movies. Parierten die Filme der 1980er-Jahre dieses Jahrzehnt weltweiten militärischen Nach- und Wettrüstens noch mit wortkargen, technoid gepimpten Actionhelden, endete das Jahrzehnt mit dem Blockbuster Harry und Sally. Sallys legendärer gespielter Orgasmus sandte Schockwellen in eine Branche, die fortan die stoisch leidenden Heldinnen des Melodrams durch plappernd-putzige Liebesstrateginnen ersetzte. Rom-Com-Heldinnen wie Goldie Hawn und Meg Ryan hatten einen Job und wollten einen Mann und betrieben beides mit derselben Professionalität. Ihre Nachfahrinnen blicken heute, eher siegesgewiss als verträumt, von meist an Verkehrsknotenpunkten platzierten City-Light-Postern und teilen uns mit, dass sie parshippen.

Komplexes wird verdünnt

Gefühl und Härte, das hat uns das ausgehende 20. Jahrhundert gelehrt, sind keinesfalls ein Gegensatzpaar. Sie bedingen einander. Und sie bedingen die aktuell allgegenwärtige Konvergenz der Geschlechter. Wo Gefühle mit aller Härte durchgesetzt werden (weiblich konnotiertes Modell) und Härte sukzessive durch Gefühle ersetzt wird (männlich konnotiertes Modell) verschränken sich die Geschlechterstereotype zu neuen Herausforderungen. Eines jedoch ist klar: Ohne Gefühle ist auf jeden Fall alles nichts.

Peer Mertesackers Angst-Geständnis oder Loris Karius tränenschwangere Versagensbewältigung haben bei zahlreichen Kommentatoren durchaus Spott hervorgerufen. Von wegen "Augen auf bei der Berufswahl". Viel mehr jedoch unterstreichen sie den Paradigmenwechsel von der Leistungs- zur Emotionsgesellschaft. Das Denken im Kindchenschema wird im Emoji manifest. Zu denen gehören natürlich, neben allem Gezwinkere und Tränengelache, zwingend auch der traurige und, vor allem, der zornige Smiley. Das Primat der Gefühle – und dessen rudimentärer sprachlicher Entsprechung – beschränkt sich ja nicht auf die Hochzeit von Harry und Meghan ("Hach"), sondern auch auf, sagen wir, straffällig gewordene Geflüchtete ("Pfui").

Medienkreisläufe und deren Relevanz-Tautologie

Schon klar, die AfD ist wie schlechtes Fernsehen: 13 Prozent Marktanteil, etwa für Markus Lanz, heißt ja im Umkehrschluss, der ganze Rest, also 87 Prozent der Zuschauer, wählt zur selben Zeit was anderes. Für den Mainstream ist jedoch hier wie dort nicht dessen absolute Masse relevant, sondern was in ihn einsickert. Das Primat des Gefühls verdünnt Komplexes und Kompliziertes zu schnell fließenden Gewissheiten: Erkenntnishomöopathie – wer fühlt, hat recht.

Wie sehr Gefühle zur Staatsraison geworden sind, wird überdeutlich anhand der, seit dem Siegeszug der AfD, von allen Parteien gebetsmühlenhaft vorgetragenen Formel, man müsse die Ängste der Menschen ernst nehmen. Muss man das wirklich? Oder könnte man sich nicht vielmehr dem Rückbau einer Angsterzeugungsindustrie widmen, die aus Werten von gestern die Aufreger von heute macht. Denn nein, Fremdenfeindlichkeit zum Geschäftsmodell zu machen ist kein upcycling, sondern ein Rückfall. Wer fühlt, hat eben genau nicht recht. Er begibt sich auf den Holzweg von der Meinung zur Wahrheit. Und speist neue, sogenannte Aufregerthemen in die sozialen und sonstigen Medienkreisläufe und deren Relevanz-Tautologie ein: Alle reden darüber, weil alle darüber reden. Und "fühlen" sich betroffen.

Die Seife liebt dich nicht

Gefühlt hat uns ja auch das Internet sehr lieb, so lieb wie ein in der Altenpflege eingesetzter Roboter mit aufgemaltem Edding-Lächeln. Dessen technische Basis beruht auf der so variantenarmen wie wenig gefühlvollen Logik automatisierter, billionenfach vollzogener Ja-Nein-Entscheidungen. Das ist beim pubertären Gänseblümchenzupfen – er liebt mich, er liebt mich nicht – nicht anders. Und sollte das letzte weiße Blättchen ein Nein verkündet haben, greift man zum nächsten Rupfobjekt. Es ist nicht immer leicht, zwischen Verarschung und Selbstverarschung zu unterscheiden. Vor allem, wenn man sich beidem willentlich und wissentlich hingibt. Des guten Gefühls wegen. Dem Belohnungszentrum ist es schlussendlich egal, ob es von einem Algorithmus oder einem Gänseblümchen getriggert wird. Es freut sich und lässt ansonsten das Hirn ein gutes Organ sein.

Ach ja, das Hirn. Jener unermesslich potente Ort im eigenen Körper, an dem die Ja-Nein-Logik an ihre viel zu eng gezogenen Grenzen stößt. Und wo sich Fühlen in Denken überführen ließe. Weil sich eigentlich alles in Denken überführen lässt. Ein Ort, an dem man nicht glaubt, dass Moschino einen liebt, bloß weil das auf der herzförmigen Seife in der goldenen Schale steht. Ein Ort, an dem es egal ist, wie ich mich fühle, weil ich gerade mit etwas Wichtigerem befasst bin. Einmal Asperger für alle, bitte! Einfach mal nicht mehr gerührt, empört oder beleidigt sein und den Affekt nicht länger zum ständigen Begleiter machen.

Wer weiß, vielleicht gelingt es uns ja sogar dauerhaft, Freude an Denken und Handeln zu finden. Denn ins Handeln müssen wir kommen, zum Handeln müssen wir uns befähigen. Ob wir das hinkriegen? Ich hab' da ein gutes Gefühl.

Heike-Melba Fendel ist Autorin und Inhaberin der Künstler- und Veranstaltungsagentur Barbarella Entertainment. Sie lebt in Köln und Berlin. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8". 


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