10 nach 8: Christina Baniotopoulou über Euripides

 
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06.06.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Medea, die Urfeministin
 
Viele Menschen befällt schon bei der Nennung des Namens das blanke Grauen. Aber für mich ist die Medea von Euripides eine Pionierin im Kampf für Gleichberechtigung.
VON CHRISTINA BANIOTOPOULOU

Constanze Becker in der Rolle der Medea in einer Inszenierung von Michael Thalheimer aus dem Jahr 2013 © Stephanie Pilick/dpa
 
Constanze Becker in der Rolle der Medea in einer Inszenierung von Michael Thalheimer aus dem Jahr 2013 © Stephanie Pilick/dpa
 

Vor Kurzem hat eine 36-jährige Mutter ihren siebenjährigen Sohn mit 17 Messerstichen im türkisch besetzten Teil Zyperns umgebracht. Danach versuchte sie erfolglos, sich selbst zu töten. Es wird angenommen, dass sie das Verbrechen beging, weil der Vater die Vormundschaft des Kindes übernehmen wollte. In der Berichterstattung ist von "einer modernen Medea" die Rede, die nichts Geringeres als die Todesstrafe verdient habe. Die mythologische Medea aber wurde nicht zum Tode verurteilt, im Gegenteil: Ihre Verbrechen wurden nie gesühnt. Keine Strafe wäre für sie angemessen gewesen.

Bei mir ruft der Name Medea im Kopf vielversprechende Konnotationen hervor. Seit meiner Pubertät und – wenn ich ganz ehrlich bin – noch heute heißt meine Fantasietochter stets Medea. Meine Medea ist eine selbstbewusste, eigenwillige Frau. Und zudem hundertprozentig griechisch. Medea ist für mich die Definition eines feministischen Chauvinismus par excellence.

Betrogen und alleingelassen

Alle anderen hingegen befällt bei der Nennung dieses Namens offenbar das blanke Grauen. Warum das so ist, habe ich nie verstanden. An der Etymologie des Wortes kann es jedenfalls nicht liegen. Das Verb medein deutet darauf hin, dass Medea so viel bedeutet wie: Ratgeberin, Beschützerin oder Herrscherin. Insofern liegt der schlechte Ruf des Namens einzig und allein in Euripides’ Tragödie begründet. Und so beschloss ich, das Werk noch einmal genauer zu lesen.

Medea, Tochter eines Königs, verliebt sich unsterblich in Iason, den Anführer der Argonauten. Ihm zuliebe zerstückelt sie ihren eigenen Bruder und hilft Iason, König Pelias umzubringen. Beide finden in Korinth einen Zufluchtsort und bringen zwei Söhne auf die Welt. Kurz darauf aber verlässt Iason Medea für die Tochter des Königs von Korinth.

An diesem Punkt beginnt die eigentliche Geschichte der Medea. Die Heldin fühlt sich betrogen, alleingelassen, als eine entwurzelte Barbarin in einer ihr fremden Welt. In Korinth ist sie jetzt Persona non grata, dort kann sie nicht mehr bleiben, und zurück in ihre Heimat kann sie auch nicht mehr gehen.

Sie opferte das Wertvollste

Sie ist aber eine intelligente Frau und weiß um ihre größte Macht: ihre beiden Söhne. Also tut sie das Grausamste, was eine Mutter tun kann: Sie bringt ihre eigenen Kinder um. Und zwar, in der Übersetzung von Karl Heinz Eller, mit den folgenden Worten:

"Nun, meine unselige Hand, nimm das Schwert,
nimm es, geh zum leidvollen Lebensziel
und werde nicht schwach, erinnere dich nicht der Kinder,
wie allerliebst sie sind, wie du sie gebarst, nur diesen
einen kurzen Tag vergiß die Kinder,
dann weine. Denn, tötest du sie auch, sie waren dennoch
geliebt, und ich bin ein unglückliches Weib."


Die Tat begeht sie nicht aus Rache oder Eifersucht, sondern aus ideologischen Gründen. Medea ist eine Revolutionärin, die um ihre Ideologie betrogen wurde. Sie glaubte an die bedingungslose Liebe, wie sie einst von Iason verkörpert wurde. Für diese Liebe opferte sie ihre Herkunft, ihren königlichen Status, ihren Bruder.

Und als Revolutionärin, deren Glaube sich als eine Illusion entpuppt, opfert sie am Ende das Wertvollste, was sie hat: ihre Kinder. Ihr Akt ist das erste rein feministische Verbrechen aller Zeiten.

"Hinter jedem Suizid steckt ein Mord", so ist es von Sigmund Freud überliefert. Im Falle von Medea muss man diesen Satz jedoch andersherum lesen. Denn hinter dem Mord der Kinder steht der Suizid der Mutter. Medea tötet nicht nur ihre Söhne, sie nivelliert auch ihre weibliche Natur auf eine abstoßende, vulgäre Art. Mit manischer Entschlossenheit vernichtet sie den heiligsten Ursprung der weiblichen Natur, das Muttersein. Und so wird sie zu einem zeitlosen Sinnbild.

Ein hoher Preis für die Freiheit

Ohne Medea hätte es wahrscheinlich keine erste, zweite und dritte Welle des Feminismus gegeben, keinen Diskurs über Schwangerschaftsabbrüche (noch immer ist das Abtreibungsrecht umstritten, wie man in Irland oder Spanien gerade sieht). Auch Werke wie Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht oder We Should All Be Feminists von Chimamanda Ngozi Adichie konnten nur entstehen, nachdem Medea mit ihrem Verbrechen die Grenzen des Kampfes um Selbstbestimmung aufgezeigt hatte.

Medea ist eine Pionierin im Ringen für Gleichberechtigung. Und trotz der ständigen Namensassoziation mit einer Kindsmörderin – als Resultat eines jahrhundertealten Patriarchats – hat Euripides (ein Mann) sie nicht als Täterin, sondern als Opfer betrachtet. Denn sie wird weder einer menschlichen noch einer göttlichen Strafe unterzogen, wie es in der griechischen Tragödie üblich ist. Medea darf fliehen. Der Dichter erlaubt ihr, in einem von Drachen gezogenen Wagen – die Leichen der Kinder im Arm – gen Himmel zu fahren. Es scheint mir, dass Euripides seine Medea so sehr respektiert, dass er sich nicht einmal als ihr Schöpfer traut, sie zu einer Katharsis zu führen. Der revolutionäre Akt – wie auch die Freiheit – ist mit einem hohen Preis verbunden. Und diesen Preis zahlt sie selbst.

Der modernen Medea aus Zypern kann aber kein Dichter, und erst recht nicht die Gesellschaft, einen goldenen fliegenden Wagen schicken. Sie wird auf Erden als Kindsmörderin bestraft. Die größte Strafe hat sie sich aber selbst auferlegt, in Form ihres gescheiterten Suizidversuchs.
 

Christina Baniotopoulou geboren 1990 in Thessaloniki, Griechenland ist Psychologin. Sie lebt seit 2011 in Berlin. Gerade macht sie die psychotherapeutische Ausbildung. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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