Straßennamen sind nur ein Anfang Die deutsche Bevölkerung weiß noch immer viel zu wenig über die Verbrechen und den Rassismus des Kaiserreichs. Eine neue, antikoloniale Bewegung will das ändern. VON GOURI SHARMA |
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| | Eine Kreuzung im afrikanischen Viertel in Berlin: Die Lüderitzstraße soll in Cornelius-Frederiks-Straße umbenannt werden. © Monika Skolimowska/dpa |
Vor zwei Jahren kam ich zum ersten Mal nach Berlin. Ich war in einer WG im sogenannten Afrikanischen Viertel im Wedding untergekommen, jenem Viertel, in dem die Straßen nach verschiedenen afrikanischen Ländern benannt sind. Obwohl mir diese Straßennamen durchaus aufgefallen waren, blieb mir ihre historische und politische Relevanz dennoch verborgen und so radelte ich die Lüderitzstraße rauf und runter, traf mich gänzlich unbedarft mit Freunden in der Guineastraße und ging zum Essen in die Kongostraße, während ich den Sommer in der Stadt genoss.
Mittlerweile haben sich einige Dinge verändert, aber vor allem habe ich inzwischen viel über dieses Thema dazugelernt. Zum Beispiel, dass die jüngsten Diskussionen um das Afrikanische Viertel in Berlin nur ein kleiner Teil einer viel größeren Kampagne sind, deren Ziel es ist, dass Deutschland sich endlich seinen Kolonialverbrechen stellt und den Prozess der Dekolonisation beginnt.
Für die Artikel, die ich seitdem geschrieben habe, habe ich Hamburgs Kolonialhafen besucht, habe Menschen getroffen, deren Vorfahren von deutschen Machthabern getötet wurden und habe Interviews mit Vertretern großer Kulturinstitutionen geführt, die mir das Gefühl vermittelten, dass sie sich vor allem wünschten, die Bewegung möge bald verstummen. Nun, da diese Kampagne wirklich Fahrt aufnimmt, ist es wichtig, sich noch einmal vor Augen zu führen, worum es ihr wirklich geht. Und da gibt es zwei Dinge, derer ich mir absolut sicher bin. Erstens: Die antikoloniale Bewegung in Deutschland wird erstarken. Und zweitens: Die Zeiten, in denen Deutschland sich der Auseinandersetzung mit diesem gewalttätigen, bislang wenig beachteten Abschnitt seiner eigenen Geschichte entziehen konnte, sind vorbei.
Je tiefer ich mich in dieses Thema eingearbeitet habe, umso klarer wurde mir, wie wenig die meisten Deutschen wissen. Nur sehr wenige sind sich darüber bewusst, dass ihr Heimatland bis zu seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg eine der größten europäischen Kolonialmächte in Afrika war. Zu den deutschen Kolonien gehörten Namibia, Tansania und Kamerun, um an dieser Stelle nur ein paar zu erwähnen. Noch weniger Menschen in Deutschland wissen, dass Deutschlands erster Kanzler, Otto von Bismarck, eine entscheidende Rolle bei der Verteilung afrikanischer Länder unter den europäischen Großmächten spielte, als er im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Berliner Konferenz – als Höhepunkt des sogenannten Wettlaufs um Afrika – einlud, bei der die Grenzen auf dem afrikanischen Kontinent definiert wurden, die teilweise bis heute Bestand haben. Sogar einige der Gräueltaten, wie der Mord an nahezu 100.000 Mitgliedern der Ovaherero- und Nama-Stämme in Namibia, der heute offiziell als der erste Genozid des 20. Jahrhunderts gilt, oder der Diebstahl menschlicher Schädel zu "wissenschaftlichen", ja eher rassistischen Zwecken, sind der deutschen Bevölkerung weitgehend unbekannt.
Diejenigen, die tatsächlich Bescheid wissen, entscheiden sich im Gespräch in der Regel für eine von zwei Argumentationslinien – entweder versuchen sie, die Gräueltaten kleinzureden, weil sie angeblich weniger schlimm gewesen seien, als die von den Briten oder Franzosen begangenen Verbrechen, oder sie weisen gleich jegliche Verantwortung von sich, weil es doch nur eine kurze Phase gewesen sei (die Hochzeit der deutschen Kolonialherrschaft dauerte ungefähr 35 Jahre).
Um endlich etwas an diesem Missstand zu ändern, begann sich 2016 eine starke Bürgerbewegung zu formieren. Ein loses Netzwerk aus Menschen in Berlin, Hamburg, München und Köln auf der einen und Namibia, Tansania, Kamerun und Togo auf der anderen Seite, darunter Aktivisten, Historikerinnen, Journalisten und eine wachsende Zahl an Studentinnen. Im Laufe der vergangenen zwei Jahre haben sie Proteste, Konferenzen, Petitionen und Märsche organisiert, um Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken. Und tatsächlich haben sie bereits erste Erfolge zu verzeichnen.
Teil der deutschen Erinnerungskultur
Vor drei Monaten hat der Hamburger Senator für Kultur und Medien die erste offizielle Entschuldigung an die Ovaherero und Nama gerichtet, für den Verlust des Landes, das ihnen während der deutschen Besetzung genommen wurde. Erst kurz zuvor waren die Namen von drei von etwa 20 Straßen im Afrikanischen Viertel geändert worden – anstelle von Ländernamen tragen diese nun die Namen afrikanischer Widerstandskämpfer. Vor drei Monaten ließ die Regierung zudem verlauten, dass nun auch die Kolonialgeschichte Deutschlands ein Teil der deutschen Erinnerungskultur werden soll, eine Entwicklung, die die meisten Aktivisten und Aktivistinnen noch vor zwei Jahren kaum für möglich gehalten hätten.
Die Deutschen tun gut daran, dieses Thema endlich ernst zu nehmen, denn meine Interviewpartner haben mir deutlich gemacht, dass die Ungerechtigkeiten von damals sich heute auf unterschiedlichste Art und Weise auswirken. Tansanierinnen, die in Berlin leben, haben mir die Trauer beschrieben, die sie empfinden, wenn sie sehen, in welcher Form sich die Kolonialisierung in ihrer Heimat immer noch fortsetzt. So gibt es heute einen ganz besonders bei deutschen Touristen beliebten Wildpark im Süden Tansanias, auf dessen Gebiet einmal Menschen lebten, die damals von den deutschen Kolonialherren brutal vertrieben wurden.
Ich habe auch einen Aktivisten aus Kamerun getroffen, der mir von seiner jahrelangen Auseinandersetzung mit dem ethnologischen Museum in Berlin erzählt hat. Es geht um die Rückgabe einer religiösen Figur, die seiner Gemeinschaft während der deutschen Kolonialherrschaft entwendet wurde. Und ich habe mir die Geschichten von den Ovaherero und den Nama erzählen lassen, von ihren Bemühungen um Gerechtigkeit für ihre Vorfahren. Sogar einen Prozess gegen die deutsche Regierung haben sie von den USA aus angestrengt. Und ich habe immer wieder mit einer schwarzen Journalistin gesprochen – über den alltäglichen Rassismus, den sie in Deutschland über sich ergehen lassen muss, ein Rassismus, der eindeutig auf die kolonialistische Ideologie weißer Überlegenheit zurückgeht.
Am überraschendsten waren jedoch meine Unterhaltungen mit deutschen Historikern, die deutlich machten, wie entscheidend dieses Thema für die deutsche Identität sein könnte. Deutschland, eine Nation, die mit großem Stolz auf die eigene Erinnerungskultur verweist, hat seine gesamte Nachkriegsidentität auf der Ablehnung und Verarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust aufgebaut. Nun aber zeigt die Antikolonialismusbewegung, wie das Dritte Reich letztlich auf dem Zweiten aufgebaut hat. Ein großer Teil des rassistischen Gedankenguts, der Sprache, ja sogar einige der Methoden der Vernichtung, die die Nazis anwendeten, hatten sich bereits in der vorangegangenen Ära des Kolonialismus herausgebildet. So gab es schon in Namibia Konzentrationslager, und Hermann Görings Vater war Kolonialherrscher in Südwestafrika.
Deutschland hat zu Zeiten des Kolonialismus schreckliche Verbrechen begangen und hat es bisher vermieden, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ich als außenstehende Beobachterin glaube, dass Deutschland der antikolonialen Bewegung mehr Gehör schenken sollte. Sofern es denn Wert legt auf seinen Ruf als Land, in dem Gerechtigkeit und Menschenrechte für alle eine hohe Priorität haben.
Übersetzt Aus dem Englischen von Sabine Kray
Gouri Sharma ist eine freie Journalistin aus London, die momentan in Berlin lebt. Zuvor hat sie in der Produktion einer wöchentlichen medienkritischen Show bei Al Jazeera und als Journalistin in Indien gearbeitet. Ihre Hauptthemen sind Kultur, Identität und Zeitgeschehen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". |
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Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht.
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