10 nach 8: Marion Detjen über Diversität

 
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01.06.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Vielfalt lässt sich nicht kapern
 
Über Identitätspolitik wird oft gejammert. Politik und Wirtschaft versuchen sie zu instrumentalisieren. Aber die gute Nachricht: Im Alltag ist Diversität lebendig.
VON MARION DETJEN

Demonstration gegen die AfD in Berlin im Mai 2018 © Gregor Fischer/dpa
 
Demonstration gegen die AfD in Berlin im Mai 2018 © Gregor Fischer/dpa
 

Seit Jahr und Tag wird gejammert über die Identitätspolitik, die angeblich an allem schuld oder mitschuldig gewesen sein soll: an der wachsenden sozialen Ungleichheit, am Abgehängtwerden weißer Unterschichten, daran, dass niemand mehr Kant liest wegen der Triggerwarnungen in irgendeiner amerikanischen Ausgabe, und daran, dass vielleicht irgendwo Steuergelder für Toilettenumbauten verschwendet werden, am Aufstieg der AfD und an der Trump-Wahl, ja, an der ganzen gegenwärtigen Krise der Demokratie.

Hauptvorwurf: Sie habe uns mit den Anliegen komischer Minderheiten in Trab gehalten und uns hinterhältig davon abgebracht, Sozialpolitik für die Bedürfnisse der breiten Masse zu machen. Ich will das gar nicht diskutieren. Selbst wenn es stimmen würde, dass die Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsbemühungen der letzten Jahrzehnte tatsächlich nur ein fieses Ablenkungsmanöver der Eliten gewesen wären, um das neoliberale Projekt voranzutreiben, führt doch kein Weg dran vorbei: Wir leben in einer Welt der ethnischen, kulturellen und geschlechtlichen Vielfalt, mit ausdifferenzierten Identitäten, und was ist eigentlich schlecht daran? Warum sollen Politik und Gesellschaft nicht lernen, kreativ und konstruktiv mit den Verletzlichkeiten und Verletztheiten umzugehen, die mit ihnen einhergehen?

Anstatt Diversität zu leugnen, Gender und Multikulti verächtlich zu machen und die daran anknüpfenden Fragen zu diskreditieren, könnten wir ja auch mal schauen, welche Rolle die Zulassung und Wertschätzung von Vielfalt historisch in der Herausbildung unserer Gesellschaften gespielt hat. Sie ist nämlich der Geschichte des "christlich-jüdischen Abendlandes", um dessen Bestand jetzt die Genderwahnverächter so sehr bangen, eng verbunden, solange der Liberalismus überhaupt noch als konstitutiver Bestandteil dieser Geschichte gilt.

Traditionen und Gebräuche als Schutz

Für John Stuart Mill, einen der Haupttheoretiker des Liberalismus, war Vielfalt ein Indikator für Freiheit und unverzichtbar in pluralistischen Gesellschaften. Anders zu sein, eine individuelle Identität auszubilden, von der Norm abzuweichen, ganz eigene Wege gehen zu dürfen, all das ist in seiner Schrift On Liberty (1859) Kern des westlichen Freiheitsverständnisses. Mill verbindet das Recht auf individuelle Freiheit mit dem Humboldtschen Ideal einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung: Erst eine Gemeinschaft von freien, selbstbewussten, differenten Individuen macht auch einen guten Staat. Anders sein zu dürfen geht nur unter den Bedingungen von Vielfalt. Komplett homogene Gesellschaften erlauben gar nicht, die Erfahrungen zu machen, die man für eine differente Persönlichkeitsentwicklung braucht. Erst in der Vielfalt erschließt sich uns die Welt, erst in der Vielfalt können wir uns selbst erkennen. Erst in der Vielfalt kann Neues entstehen, und auch erst in der Vielfalt können Gruppen Traditionen und Gebräuche ausbilden, um Schwache vor der Erbarmungslosigkeit von ungezügelter Konkurrenz zu schützen.

Die deutsche und europäische Geschichte ist ein Amalgam von der Vielfalt förderlichen und die Vielfalt hemmenden Entwicklungen. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit dem Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz einerseits fast so etwas wie ein Grundrecht auf Anderssein eingeführt: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit", andererseits dieses Recht nicht nur durch andere Rechte, sondern auch durch ein nur sehr schwer schlüssig zu begründendes "Sittengesetz" wieder eingeschränkt: "soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt". Es hat Jahrzehnte liberaler Verfassungsrechtsprechung gebraucht, um die allgemeine Handlungsfreiheit wirklich durchzusetzen und von der Willkür des "Sittengesetzes" halbwegs zu befreien.

Was 1993 verbockt wurde

Kulturelle und ethnische Vielfalt hatten es ebenfalls schwer: Einerseits wies die Bundesrepublik (und die DDR sowieso) die rein rassistisch verstandenen Homogenitätsvorstellungen der Nationalsozialisten zurück. Andererseits trat sie wieder in das alte Staatsangehörigkeits- und "Ausländerrecht" ein, das fast ausschließlich auf dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) basierte: Dazugehören sollten jene, deren Eltern, Großeltern oder auch Urururgroßeltern schon dazugehört hatten, immerhin auch die im Laufe des 19. Jahrhunderts eingebürgerten Juden. Eine letztlich tribalistische Vorstellung des "deutschen Volkes", das dann auch für seinen Fortbestand auf Vater, Mutter, Kind und traditionelle Geschlechterarrangements angewiesen war. Für das Abstammungsprinzip gab es nach 1945 auch nicht ganz von der Hand zu weisende historische Gründe – die Kriegsfolgen, die deutsche Teilung, die kommunistischen Diktaturen. Doch mit der Demokratisierung Ost- und Mitteleuropas 1989/90 entfielen diese Gründe. Es wäre endlich, endlich Zeit gewesen, Vielfalt anzuerkennen, mit der Vielfalt zu arbeiten, die Vielfalt für die Freiheit zu nutzen.

Stattdessen, und das sollten wir der CSU und dem illiberalen Teil der CDU nie vergessen, gerade heute nicht, wo sich 25 Jahre jährt, was 1993 himmelschreiend verbockt wurde: Der Selbstbetrug des "Deutschland ist kein Einwanderungsland"-Mantras siegte über die Hoffnungen auf ein liberales, aber Kontrolle ermöglichendes Einwanderungsrecht und eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, was damals zum Greifen nahe schien. Und gleichzeitig verriet Deutschland mit der Änderung des Artikels 16 GG und den Dublin-Regeln, die ja, konsequent durchgesetzt, keinen einzigen Asylsuchenden mehr deutschen Boden erreichen lassen, so ziemlich alles, was es jenseits seiner Grenzen nur verraten konnte: die europäische Solidarität, den Grundgedanken des Asylrechts und der Genfer Flüchtlingskonvention, das Wissen, dass man doch vielfältig verbunden ist mit dem, was in der Welt geschieht. Der Mob nahm diesen Verrat dankbar auf und übersetzte ihn in Mord und Totschlag – er bekämpfte das bisschen ethnisch-kulturelle Vielfalt, das als Erbe der "Gastarbeiter"- und "Vertragsarbeiter"-Zeiten in West und Ost allen Widrigkeiten zum Trotz entstanden war, auf seine Weise, mit Brandanschlägen, Hetzjagden und Überfällen. Übrigens scheiterte 1993 auch der erste große Versuch, die staatliche Anerkennung homosexueller Partnerschaften zu erkämpfen.  

Multikulti und Genderdingens als Hoffnung

Erst nach dem Regierungswechsel 1998 wurden die entscheidenden Schritte für ein deutsches Volk in ethnisch-kulturell-religiös-geschlechtlicher Vielfalt gemacht: 2000 wurde das Staatsangehörigkeitsrecht um das Geburtsprinzip (ius soli) ergänzt, und es wurde für homosexuelle Paare das Lebenspartnerschaftsgesetz verabschiedet. Und 2005 traten endlich Zuwanderungs- und Aufenthaltsgesetze in Kraft, die bis zu einem gewissen Grade anerkannten, dass Einwanderung eine Realität ist. In der CDU hatte sich unter Angela Merkel der diese Realitäten halbwegs akzeptierende Teil durchgesetzt, sodass unter der großen Koalition eine Vielfalt als Chance wahrnehmende Politik fortgesetzt werden konnte. 2006, da war die Fussball-WM, als deutsche Fahnen gesellschaftsfähig wurden, weil sie auch von Türkischstämmigen geschwenkt wurden und junge Leute aus aller Welt sie sich auf die Backen malten. Da bekannte sich der Bundesinnenminister Schäuble dazu, dass der Islam ein Teil Deutschlands ist. Da taten sich führende Unternehmen der deutschen Wirtschaft und die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration zusammen, gründeten einen Verein und verabschiedeten, unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin, die Charta der Vielfalt.

Die Hoffnung, dass man mit Vielfalt Geld machen könne, dass "Diversity als Chance" sich vor allem ökonomisch bewähren müsse, wirkte jedoch korrumpierend. Eine kleine, selbst erlebte Anekdote aus den USA: Mich schockte 2007 ein New Yorker Rechtsanwalt – er verdiente Unmengen Geld und war ohne jedes Schuldgefühl weiß, cis, hetero, angelsächsisch und Angehöriger der Oberschicht – mit seiner freimütigen Erzählung, warum er gerade händeringend eine Transperson für seine Firma suche: Die hochqualifizierten, hyperleistungsbereiten, von den Universitäten kommenden jungen Leute, auf die die Firma eigentlich scharf war, würden das wollen. Man könne die Besten der Besten nicht mehr nur allein mit Geld ködern, man müsse ihnen auch ein attraktives Arbeitsumfeld bieten. Und zu einem attraktiven Arbeitsumfeld heutzutage gehöre nun mal Diversity, und da sei Transgender jetzt der letzte Schrei.

Konstruktive Veränderungsprozesse

Ich weiß nicht, ob er fündig geworden ist. Das Mehr an Freiheit durch ein Mehr an Vielfalt hat ja in aller Regel einen Preis, nämlich den, dass diejenigen, die sich in der Vielfalt selbst relativieren und infrage stellen müssten, sich in ihren Handlungsmöglichkeiten zunächst eingeschränkt sehen und deshalb glauben, es handele sich um einen Freiheitsverlust. Und darauf reagieren sie eher wütend, sodass konstruktive Veränderungsprozesse gar keine Chance mehr haben.

Die Charta der Vielfalt in Deutschland wurde ein Rohrkrepierer: Die Zahl der circa 200 Unternehmen, die 2006 dabei waren, ließ sich in den über zehn Jahren seither nur auf circa 2.000 steigern, angesichts von über 60.000 mittelständischen und großen Unternehmen in Deutschland eine jämmerliche Bilanz. In den USA verlief die Sache komplizierter: Goldman Sachs, Netflix, Facebook und viele andere große Unternehmen integrierten Diversitätsmanagement, aber verlagerten es auf die rein individuelle und persönliche Ebene der Glückssuche ihrer Mitarbeiter*innen: Sie bezahlen ihnen geschlechtsangleichende Operationen, um sie an sich zu binden, so wie sie ihnen etwa die Privatschulen ihrer Kinder bezahlen oder den Ausflug nach Las Vegas. Aber in den Führungsriegen der Wirtschaft sind auch in den USA Transpersonen äußerst selten, schon Frauen und People of Colour haben es, wie überall auf der Welt, schwer genug.

Diversität als täglich gelebte Praxis

Seit Trump an der Macht ist, wird Vielfalt noch raffinierter für die Interessen weniger instrumentalisiert und in ihrem Freiheitswert ausgehöhlt: "Diversität und Inklusion müssen als Investment gesehen und dort platziert werden, wo sie hingehören – in den Mittelpunkt jeder Wachstumsstrategie", heißt es jetzt auf Forbes unter dem Titel: "Is the Era of Trump Triggering Transformation in Workplace Diversity?" Der Abweichung, der Differenz, solle kein Eigenwert mehr zugemessen werden, der Kosten verursache (Kosten, die der Gesellschaft geschuldet wären), sondern sie solle nur noch dem Profit des Unternehmens selbst dienen. Dazu sei aber unabdingbar, diejenigen, die seit jeher den größten Einfluss auf die Profitcenters haben, die "non-divers white men", zur Diversität zu "erwecken", es also den existierenden Machtverhältnissen zu überlassen, zu bestimmen, welche Diversität fürs Unternehmen nützlich ist und welche nicht.

Deutschland wird in dieser Hinsicht wohl tatsächlich kein Einwanderungsland werden und braucht es auch nicht. Aber die Sehnsucht nach Vielfalt und nach Anerkennung der Vielfalt ist von solchen Missbräuchen unabhängig. Die fröhliche, friedliche, tanzende Massendemonstration vor allem junger Menschen gegen die AfD letzten Sonntag in Berlin feierte das Motto "Mein Herz schlägt für Vielfalt". Unter diesem Motto vereint sich heutzutage ein breiter Querschnitt durch die Bevölkerung, von der Partyjugend Berlins über die Arbeiterwohlfahrt und recht bürgerliche Regenbogenfamilien bis hin zu den Nonnen des Franziskanerordens, und zeigen nicht nur der AfD, sondern auch den vielfältigen Vielfaltsverächtern der anderen Parteien, dass sie die Uhren nicht zurückdrehen können. Dass Multikulti und Genderdingens keineswegs ad acta gelegt sind, sondern als Hoffnung, als Forderung, als tagtäglich gelebte Praxis lebendig bleiben werden.

Marion Detjen ist Historikerin am Zentrum für Zeithistorische Forschung. Ihre Schwerpunkte liegen auf der deutsch-deutschen Migrationsgeschichte, Gender und den Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".


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