Achtzehn Jahre lang hat Wladimir Putin Russland schon regiert, und am Sonntag hat er im Kreml den
Eid auf seine nächste und wohl letzte Amtszeit von sechs Jahren abgelegt. Anlass genug, über seine Politik nachzudenken – und darüber, wie wir unser Verhältnis zu Russland gestalten sollen.
Ich habe schon öfter gesagt, dass ich Putin weder für einen lupenreinen Demokraten halte noch für ein Unschuldslamm. Ich finde, dass wir ihm
ohne Illusionen und ohne Obsessionen gegenübertreten müssen. Dabei mag uns Bismarcks nüchterner Realismus als Leitlinie dienen.
Der spätere Reichskanzler hatte Russland 1859 bis 1862 als preußischer Gesandter in Petersburg kennengelernt. Vom einzelnen Russen hatte er keine hohe Meinung – er sei nur durch Gewalt zu regieren, und auf Rechtssicherheit sei kein Verlass. Zuweilen klagte Bismarck auch über ein "mürrisches, europafeindliches Russentum". Doch als der Zar an der Westgrenze Kavallerie und reitende Artillerie aufmarschieren ließ (wie das heute Putin immer wieder einmal mit Infanterie und Panzern macht) und die Generäle den Kanzler zum Präventivkrieg drängten, fiel er ihnen in den Arm: "Den russischen Krieg werden wir nie hinter uns haben." Seine Nachfolger beschwor er, niemals den Draht nach Russland abreißen zu lassen.
Es ist eine Einsicht, die wir trotz der Annexion der Krim und trotz der offenen und verdeckten Unterstützung der ostukrainischen Separatisten durch Moskau beherzigen sollten.
Eine Politik ohne Illusionen heißt, dass wir Putin
nicht als Demokraten betrachten sollen. Sein Russland ist eine elektorale Autokratie wie die Xi Jinpings in Peking oder jene Recep Tayyip Erdogans in Ankara. Sie regieren selbstherrlich, haben in Wahlen um die 75 Prozent des Volkes hinter sich – in China, weil der wirtschaftliche Erfolg Zustimmung produziert und damit zur Basis einer ausgreifenden Großmachtpolitik wird, in Russland, weil eine großmächtige Außenpolitik die Massen darüber hinwegsehen lässt, dass es wirtschaftlich und technologisch nicht vorangeht.
Illusionslos heißt aber auch, sich einzugestehen, dass wir es nicht mit Putins Russland zu tun haben, sondern umgekehrt mit Russlands Putin. So bin ich überzeugt, dass selbst ein in unserem Sinne demokratisches Russland niemals die Krim zurückgeben wird. Ebenso wird es stets bestrebt bleiben, mit der Weltmacht USA auf der gleichen geopolitischen Stufe zu stehen. Selbst der Oppositionsführer
Alexej Nawalny sagt ja, Russland brauche das nukleare Gleichgewicht mit Amerika und müsse es bewahren und ausbauen. Und die Russen, wer immer sie führt, werden sich niemals einfach den amerikanischen Vorstellungen eines Ausgleichs fügen; sie werden auch ihre eigenen Interessen berücksichtigt und respektiert sehen wollen.
Zu einer illusionslosen Politik gehört schließlich auch, dass wir für alle Fälle unseren östlichen Bündnispartner flankensichernde Abschreckung gewähren. Das verstärkte Engagement der Nato im Baltikum, Polen und Rumänien hat insoweit militärischen Sinn.
Doch sollen wir auch vor Obsessionen auf der Hut sein. Die Russen stehen nicht angriffsbereit an ihrer Westgrenze. Gewiss haben sie nach den ernüchternden Erfahrungen im Krieg mit Georgien seit 2008 ihre Streitkräfte umstrukturiert und modernisiert. Dabei hat Putin genauso wie Trump einen gewaltigen
Ausbau seines Atomwaffenarsenals angekündigt. Wobei es allerdings einfach falsch ist zu behaupten, er habe die Schwelle für den Ersteinsatz von Atomwaffen gesenkt. Tatsächlich sollen sie nur eingesetzt werden, "wenn die Existenz des Staates selbst bedroht ist." Auch ist es durchaus der Erwähnung wert, dass Putin in einem Jahr, in dem Trump den US-Wehretat um zehn Prozent erhöhte, den russischen Militärhaushalt um ein Fünftel gesenkt hat, auf 66,6 Milliarden Dollar, ein bloßes Zehntel des Pentagon-Budgets.
Die Sanktionen scheinen zu wirken "Unsere Sicherheit ist nicht so gefährdet wie in den Tagträumen vieler Zeitgenossen", schreibt die
FAZ. Doch ist sie auch nicht so gefährdet wie in den Nachtmahren unserer Alarmisten. "Die Nato stellt sich auf eine Aggression Russlands ein", steht da zu lesen. Der Nervengiftanschlag auf die Skripals wird hochstilisiert zum ersten Einsatz von Massenvernichtungswaffen seit dem Zweiten Weltkrieg, als handle es sich um einen Giftangriff großen Stils. Und wenn ein russisches Patrouillenboot bei einem ungeschickten Wendemanöver 40 Meter in litauische Gewässer gerät, wird daraus gleich ein übler Angriffsakt.
Gewiss, wir müssen uns von Putin nicht ins Gesicht grinsen lassen. Es gibt vieles mit ihm zu bereden: Frieden an der Ostukraine, Beendigung des
Syrienkrieges, Bekräftigung des INF-Vertrags, der die Mittelstreckenraketen in Europa verbietet, und weitere Rüstungskontrolle, Einmischung in unsere Innenpolitik, Hackerangriffe auf Bundestag und Bundesministerien. Doch werden die Russen auch über die Osterweiterung der Nato reden wollen, über die Aufkündigung des Verbots von Abwehrraketen durch die USA, die Aufhebung der Sanktionen und die
Wiederzulassung in den Kreis der G7. Die Wiederaufnahme des Gesprächs über eine engere Wirtschaftszusammenarbeit von Vancouver läge im Interesse beider Seiten.
Aus Moskau gibt es erste Anzeichen, dass Putin erwägt, die Beziehungen zum Westen zu verbessern. Der frühere Finanzminister Alexej Kudrin, ein Befürworter enger wirtschaftlicher Zusammenarbeit, könne zu diesem Zweck einen hohen Regierungsposten erhalten. Die Sanktionen scheinen zu wirken, und die Hoffnungen, die Putin darauf gesetzt hatte, dass China ihm unter die Arme greift, haben sich nicht erfüllt. Eine Chance also für einen Dialog?
In Berlin, bei der Nato, in der EU ist ständig von solch einem Dialog die Rede. Aber wo ist er? Der Nato-Russland-Rat soll demnächst wieder einmal zusammentreten; dort werden sich nicht zu Verhandlungen befugte Botschafter ihre Sprechzettel vorlesen. Doch ist es an der Zeit, den Gesprächsrahmen zu erweitern. Was not tut, ist ein großer Auftritt, ein überwölbendes Konzept, ein grand design für die Gestaltung unseres künftigen Verhältnisses. Von Trump ist sie nicht zu erwarten. Die Nato denkt nur militärisch. Es braucht jedoch eine beherzte diplomatische Initiative, die sich der weiteren Eskalation erwehrt und neue Perspektiven schafft wie 1815 der Wiener Kongress, 1975 die Helsinki-Konferenz und 1990 die Charta von Paris für ein neues Europa.
Ein Ausgleich wird weder leicht noch schnell zu erreichen sein – und vielleicht ja überhaupt nicht. Doch dürfen wir auch keine Chance verpassen, die Möglichkeiten einer Wiederannäherung auszuloten. Gut, dass die Bundeskanzlerin nächste Woche zu Putin fliegt. Vielleicht finden die beiden ja den Reset-Knopf.