10 nach 8: Charlotte von Lenthe über Endometriose

 
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16.05.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Weiblicher Schmerz darf kein Tabu sein
 
Endometriose gehört zu den häufigsten Frauenerkrankungen. Trotzdem ist sie beinahe unbekannt. Wären die Betroffenen männlich, sähe das vermutlich ganz anders aus.
VON CHARLOTTE VON LENTHE

Viele Frauen sprechen nicht über Schmerzen, um nicht wehleidig zu erscheinen. © Larm Rmah/unsplash.com
 
Viele Frauen sprechen nicht über Schmerzen, um nicht wehleidig zu erscheinen. © Larm Rmah/unsplash.com
 

Fast zehn Jahre dauerte es, bis meine Schwester eine klare Diagnose bekam. Jeden Monat litt sie unter extremen Schmerzen während der Menstruation, meist lag sie über eine Woche lang im Bett – hoch dosierte Schmerztabletten und Wärmflasche halfen nur ansatzweise. Niemand kam auf die Idee, dass die Schmerzen andere Ursachen als ihre Periode haben könnten. Frauenärztinnen und -ärzte schickten sie immer wieder nach Hause ("Das sind ganz normale Regelschmerzen."). Nichts half. Bis sie selbst recherchierte, auf eine Bauchspiegelung bestand – und Recht bekam: Ein schwerer Fall von Endometriose.

"Endo-was?", bekommt sie meistens als Antwort, wenn sie von ihrer Erkrankung erzählt – die Wenigsten können etwas mit dem Begriff anfangen. Dabei ist Endometriose eine der häufigsten Frauenerkrankungen überhaupt und noch dazu eine der Hauptursachen für weibliche Unfruchtbarkeit. Sie beeinträchtigt das Leben der Betroffenen in allen Bereichen – bei der Schauspielerin Lena Dunham waren die Schmerzen so stark, dass sie sich mit 31 Jahren die Gebärmutter entfernen ließ. Die Krankheit ist nicht nur unterschätzt, sondern weitgehend unbekannt: Ein rätselhaftes, verstecktes "Frauenleiden".

Depressionen und Angststörungen

Schätzungsweise 10-20 Prozent (die Dunkelziffer ist hoch) aller Frauen zwischen 15 und 50 Jahren leiden an Endometriose, in Deutschland kommen jährlich etwa 40.000 Neuerkrankungen hinzu. Endometriose ist eine chronische Krankheit, bei der Zellen, die denen in der Gebärmutter – dem Endometrium – sehr ähnlich sind, an anderen Stellen des Körpers auftreten, etwa am Bauchfell, an den Eierstöcken, in der Blase oder im Darm. Einige dieser Herde reagieren auf hormonelle Veränderungen während des Zyklus, führen zu Entzündungen und können besonders während der Menstruation starke Schmerzen verursachen – z.B. im Unterbauch, im Rücken, in den Beinen oder Leisten, in Leber oder Lunge. Außerdem zählen chronische Erschöpfung, unregelmäßige und starke Menstruationsblutungen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Migräne, Ohnmacht und Unfruchtbarkeit zu den Symptomen – um nur einige zu nennen. In der Folge kommt es natürlich zu massiven Einschränkungen in allen Lebensbereichen: im Beruf, in der Partnerschaft oder bei der Familienplanung. Nicht selten leiden die Betroffenen unter Depressionen oder Angststörungen.

Die großen Unterschiede des Krankheitsverlaufs machen Diagnose und Behandlung kompliziert – bei meiner Schwester treten die Endometrioseherde z.B. ausschließlich in der Gebärmuttermuskulatur auf (Adenomyose). Aus den jeweiligen Befunden lassen sich wiederum kaum Rückschlüsse über die Art und Intensität der Beschwerden ziehen. Schon ein winziger Knoten kann quälende Schmerzen verursachen. Bisher gibt es keine Möglichkeit der Heilung. Je nach Ausprägung der Krankheit wird daher meist versucht, die Beschwerden mit unterschiedlichen Therapieformen in den Griff zu bekommen. Damit ihre Gebärmutter, die durch die Endometriose bereits stark vergrößert ist, nicht weiter anwächst und um die Schmerzen zu lindern, nimmt meine Schwester die Pille durchgehend. So wird versucht, ihre Periode hormonell komplett zu unterdrücken. 

Frauen gelten schnell als wehleidig

Andere Möglichkeiten sind die operative Entfernung der Endometrioseherde, das künstliches Herbeiführen der Wechseljahre oder die Entfernung der Gebärmutter und/oder der Eierstöcke. Keine dieser Therapieformen, die sowieso lediglich der Symptombekämpfung dienen, kann mit hundertprozentiger Sicherheit das Auftreten erneuter Beschwerden verhindern – von den beträchtlichen Nebenwirkungen, die alle Optionen in der Regel mit sich bringen, einmal ganz abgesehen. Weitere Therapieformen hält die Schulmedizin nicht bereit, denn Tatsache ist: Obwohl so viele Frauen darunter leiden, wurde das Rätsel Endometriose bisher schlicht nicht hinreichend erforscht.

Sylvia Mechsner, die Endometriose-Spezialistin der Charité in Berlin, ist überzeugt, dass Männer so eine schmerzhafte Krankheit nicht aushalten würden und in diesem Bereich schon viel mehr passiert wäre – etwa durch mehr Gelder oder mehr Lobby –, wenn auch Männer von der Krankheit betroffen wären. Frauen gelten schnell als wehleidig, ja hysterisch. Die Bloggerin Martina Liel, die seit über 26 Jahren mit Endometriose lebt, berichtet von Reaktionen verschiedener Frauenärzte – auch von Ärztinnen –, die von "Stellen Sie sich nicht so an, andere haben die Schmerzen auch überlebt" über "Suchen Sie sich einen stressfreien Job" bis zu "Bekommen Sie doch einfach ein Kind, dann wird das erst mal besser" reichen.

Die ebenfalls betroffene Autorin Abby Norman erzählt in ihrem kürzlich in den USA erschienenen Memoir Ask me about my uterus: A quest to make doctors believe in women’s pain, wie sie Ärzten gegenüber wiederholt über starke Schmerzen beim Sex klagte. Erst als ihr Partner sie zur Untersuchung begleitete und seine Frustration zum Ausdruck brachte, wurde sie ernst genommen: "Die Tatsache, dass ich eine Enttäuschung für einen Mann war, schien den Unterschied zu machen."

Die Medizin nimmt die Schmerzen von Frauen nicht ernst

Der Fall meiner Schwester ist kein Einzelfall. Im Durchschnitt dauert es tatsächlich zehn Jahre (!), bis die Krankheit erkannt wird. Die Booker-Preisträgerin Hilary Mantel erzählt in ihrer Autobiografie Von Geist und Geistern, wie schmerzhaft der Weg hin zu einer klaren Diagnose oft ist. Sie wurde jahrelang mit Psychopharmaka behandelt – und in die Psychiatrie eingewiesen. Auch hier führte erst die eigene Recherche zu Klarheit. Solche Geschichten sind leider eher die Regel als Ausnahme. Häufig haben die Patientinnen Fehldiagnosen, Ärztemarathons, dilettantische Behandlungen und jahrelange Ungewissheit hinter sich, und erst der unerfüllte Kinderwunsch veranlasst Frauenärztinnen und -ärzte, Endometriose überhaupt als mögliche Erkrankung in Betracht zu ziehen.

Eine eindeutige Diagnose ist aufwendig. Manche Knoten sind so klein, dass selbst Spezialisten sie übersehen. Für einen gesicherten Befund ist eine Bauchspiegelung notwendig. Oft fehlen die Zeit und das Geld für eine umfassende, individuelle Untersuchung. Klagt man über starke Schmerzen bei der Regelblutung, haben Frauenärztinnen und -ärzte meist zwei schnelle Lösungen auf Lager: Pille oder Ibuprofen. Hinzu kommt Unwissenheit. Nicht nur die Forschung hinkt hinterher, auch im Medizinstudium nimmt Endometriose bis heute keinen nennenswerten Platz ein. Und egal wie schwerwiegend die Erkrankung in vielen Fällen ist: Da sie gutartig – und nicht tödlich – verläuft, hält sich das Interesse vonseiten der Forschung in Grenzen, Forschungsgelder stehen nicht zur Verfügung.

"Du siehst aber gar nicht krank aus"

Es hat sich bestätigt, dass Ärztinnen und Ärzte auf Schmerzen je nach Geschlecht des Patienten unterschiedlich reagieren. Eine Studie aus dem Jahr 2008 zeigte, dass Frauen bei akuten Schmerzen in der Notaufnahme weniger schnell behandelt werden als Männer mit den gleichen Symptomen. Zudem bekommen sie – wie eine andere Studie herausfand – häufiger Beruhigungsmittel anstelle von Schmerzmitteln verschrieben. Schmerzen von Frauen werden sehr viel wahrscheinlicher als "psychisch bedingt" und "nicht echt" abgetan als die von Männern. Und das, obwohl Frauen tatsächlich von Schmerzen berichten, die nicht nur häufiger auftreten und länger andauern als bei Männern, sondern auch intensiver sind.

Die Schmerzen bei Endometriose sind äußerlich nicht sichtbar ("Wie, es geht dir schlecht? Du siehst gar nicht krank aus!"), lassen sich schwer messen und noch weniger lässt sich das Ausmaß der Auswirkungen auf weibliche Biografien erfassen. Darüber hinaus ist der weibliche Zyklus noch immer ein großes Tabuthema. In der Schule gibt es nichts Peinlicheres, als ein Tampon, der aus der Tasche fällt – ganz zu schweigen von einem Blutfleck auf der Hose. In der Arbeit schützt man lieber Magen-Darm-Grippe vor als von Menstruationsbeschwerden zu sprechen. Und selbst in den aufgeklärtesten Männergruppen kommt es bestenfalls zu pflichtschuldigem Interesse gepaart mit ängstlicher Zurückhaltung, wenn Frauen erwähnen, dass sie ihre Tage haben. Für junge Frauen ist es also nicht leicht zu erkennen, was normal ist, und was nicht. In den allermeisten Fällen werden Periodenschmerzen als ganz normal abgetan – mit ein bisschen Sport, gesunder Ernährung und einer Wärmflasche ist das schon in den Griff zu kriegen.

Endometriose braucht Aufmerksamkeit – durch frühe Aufklärung, nicht nur von Frauen, sondern vor allem auch von Männern; die Krankheit braucht mehr Mittel in der Forschung; und sie braucht die Thematisierung in Medien und Literatur, wie es in Ansätzen bereits passiert. Tatsächlich steckt hinter der Verharmlosung und gesellschaftlichen Tabuisierung weiblicher Schmerzen aber ein tiefliegendes Problem: Viele junge Frauen sind sich der Gefahr, selbstmitleidig oder melodramatisch zu wirken, durchaus bewusst und vermeiden daher tunlichst, in die Opferrolle zu fallen. Sie sind "postverwundet", wie die Essayistin Leslie Jamison sie in ihrem Band Die Empathie-Tests nennt: Um überholte Vorstellungen von Weiblichkeit nicht zu stützen, begegnen sie ihrem Schmerz mit Sarkasmus, Verhaltenheit oder Gleichgültigkeit – und finden keine geeignete Form, ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen.

Charlotte von Lenthe, geboren 1988 in München, hat Politikwissenschaft in Wien, Rom und Berlin studiert. Derzeit macht sie ein Volontariat bei Hanser Berlin. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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