| | Schwangere in Belarus sind verpflichtet, ein gesundes Baby zur Welt zu bringen. Die Geburtenrate steigt wieder, Präsident Lukaschenko freut sich. © Viktor Drachev/AFP/Getty Images |
Seit Februar bieten die Entbindungsstationen in Minsk etwas ganz Neues an: Die Wöchnerinnen dürfen von Familienangehörigen besucht werden. Bis vor kurzem waren die Verhältnisse dort alles andere als familiär. Was in anderen Ländern eine Selbstverständlichkeit ist, gilt in Belarus als Fortschritt.
Die Geburt eines Kindes ist in Belarus weniger eine familiäre als eine staatliche Angelegenheit. Jede Schwangere muss sich so bald wie möglich beim Frauenarzt melden. Von da an sorgt der Staat für sie. Im Land der kostenlosen Medizinversorgung heißt das: Sie ist gegenüber dem Land verpflichtet, ein gesundes Baby zur Welt zu bringen. Ab nun ist sie ein Kämpfer. Entbindung wird in Belarus häufig noch mit dem Armeedienst verglichen, nach dem Motto: Die Männer sollen zur Armee, im Ausgleich dafür, dass Frauen Kinder zur Welt bringen. Um das zu verstehen, muss man in die Vergangenheit blicken.
In ihrem Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht schreibt die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, welcher Stigmatisierung die weiblichen Freiwilligen der Roten Armee nach dem Krieg ausgesetzt waren. Während die Männer als Helden ausgezeichnet wurden, verdächtigte man die Frauen der Promiskuität. Vielen von ihnen blieb ein Familienleben verwehrt. Also verheimlichten viele ihre Kriegsteilnahme und verzichteten lieber auf den Anspruch auf Rente, Auszeichnungen, andere Erleichterungen.
Die Misogynie, die in der sowjetischen Gesellschaft herrschte, war in den Geburtsstationen, die wie Kasernen geführt wurden, wie nirgendwo anders spürbar. Bis heute werden Babys vor allem als Gegenstand staatlicher Sorge angesehen. Die Geburtshilfe ist Steckenpferd des Präsidenten Alexander Lukaschenko, ebenso die Geburtenrate, die 2016 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder anstieg. 18- bis 19-jährigen Mädchen gab er den Tipp, sie sollten Kinder zur Welt bringen, statt auf der Schulbank zu sitzen.
Der Betrieb läuft in belarussischen Geburtsstationen nach wie vor nach alten sowjetischen Schemata. So wird zum Beispiel das Baby von der Mutter getrennt und auf einer Säuglingsstation untergebracht. Wann Mutter und Kind sich wiedersehen, entscheidet der Arzt. Oft wird in die Entbindung eingegriffen, mit Amniotomie, Einführung stimulierender Mittel (Oxytocinen) und sogar mechanischem Druck auf den Bauch. Die Kaiserschnittrate ist ähnlich hoch wie in anderen europäischen Ländern, in Belarus beträgt sie 29,7 Prozent (Deutschland 2016: 30,5 Prozent).
Belarus steht ganz oben in der Rangliste der Länder mit der niedrigsten Säuglingssterblichkeit. Im Jahr 2016 starben dort, wie auch in Deutschland, 3 von 1.000 Säuglingen. Auch die Muttersterblichkeitsrate, ein anderes Kennzeichen für die Qualität der Geburtshilfe, ist niedrig.
Doch was für das Land und die Statistik gut ist, muss nicht unbedingt positiv für jede individuelle Geburt und für das Verhältnis von Mutter und Kind sein. So haben sich viele bürgerliche Initiativen in Belarus eine Humanisierung der Geburtshilfe zum Ziel gesetzt. "Ich weiß nicht, wie die Frauen es in Minsk wagen können"
Immer mehr Frauen sind des Kampfes um zivileren Umgang in staatlichen Geburtskliniken müde und wollen unter individuellen und menschlicheren Bedingungen entbinden. Sie fliehen in die familiäre Atmosphäre privater Kliniken und Medizinzentren oder reisen zur Entbindung ins Ausland, zum Beispiel nach Vilnius. Die litauische Hauptstadt ist nur 180 Kilometer von Minsk entfernt – näher als jede andere Großstadt in Belarus. So hat auch Dasha, Übersetzerin aus Minsk, ihren inzwischen bald zweijährigen Sohn in Vilnius zur Welt gebracht. "Wie habe ich das wagen können?, wurde ich gefragt. Ich weiß nicht, wie die Frauen es in Minsk wagen können." Es war auch die Entscheidung ihres Mannes, der den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen bei der Beobachtung der Geburtshilfe in Belarus beruflich begleitet.
Für die, die sich das nicht leisten können (in Vilnius kostet die Entbindung 1.000 Euro oder mehr), bleibt nur: à la guerre comme à la guerre – man muss sich den Umständen anpassen.
Vor Kurzem hatte das Theaterstück Die Öffnung von Natalja Lewanawa Premiere, in dem eine allzu sadistische Hebamme als Inbegriff der staatlichen Geburtshilfe auftritt. In diesem gefeierten Stück spielen vier Freunde (drei Frauen und ein Mann) ein Gesellschaftsspiel, in dem es darum geht, wer als erster entbindet. Weitere Protagonistinnen sind die brüllende Rezeptionistin beim Notarzt, die nicht auf den Anruf reagiert und eine überforderte private Hebamme, die gleichzeitig auch andere Termine hat und mit üblichen Floskeln ihre Patientin allein lässt. Zum Ziel kommt am Ende keiner der Spieler. Nach der Premiere sagte die Regisseurin Lewanawa: "Ich glaube, alle Frauenärzte in diesem Land werden uns verfluchen."
Die Figuren des Stückes wünschen sich mehr Spielraum für eigene Entscheidungen und weniger staatliche Kontrolle. Die Generation ihrer Eltern versteht das nicht. Sie ziehen die Tatsache, dass für die Gebärenden gesorgt wird, der individuellen Entscheidung vor.
Die Geburt als Kampf – wie stark diese Metapher selbst die Generation der Enkelinnen und Urenkelinnen beeinflusst, begreife ich, wenn ich den jubelnden Blogeintrag eines oppositionellen Politikers lese: Seine Frau habe bei der Entbindung nicht ein einziges Mal geschrien, sie sei ein echter Kämpfer (im Maskulinum).
Vera Dziadok, 1978 in Minsk geboren, ist Dolmetscherin und Projektmanagerin. Seit 2007 arbeitet sie im Programmbereich des Goethe-Instituts Minsk. Als Journalistin hat sie mit unterschiedlichen belarussischen Medien zusammengearbeitet, v. a. der Zeitung Nascha Niwa. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". |
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