| | Bundesinnenminister Horst Seehofer (2. v. r.) und der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt (2. v. l.) © John MacDougall/AFP/Getty Images |
Mehr "Rechtsstaat" war nie. Dieser Eindruck erhärtet sich zumindest im Hinblick auf die politische Debatte. Namentlich Christsoziale und andere Unionsvertreter übertreffen sich derzeit mit inflationären Appellen an den "Rechtsstaat", dessen Handlungsfähigkeit sie von allen Seiten bedroht sehen. Durch vermeintlich nicht ausreichend überwachte Islamisten. Durch afrikanische Flüchtlinge, die sich in Ellwangen gegen die Polizei stellten und auf diese Weise eine Abschiebung verhinderten. Oder aber durch deutsche Anwälte, die Asylsuchende auf dem Rechtsweg vertreten und deshalb von Alexander Dobrindt (CSU) flugs als "Saboteure" des Rechtsstaats denunziert wurden. Inzwischen intervenierte sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und wandte sich gegen das Narrativ vom "Scheitern" und "Versagen" des deutschen Rechtsstaats: ein indirekter Beweis dafür, wie sehr die Verfallserzählung dieser Tage von anderer Seite befeuert wird – nicht nur von der AfD, die seit Langem von "Rechtsbruch" spricht und nun sogar vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die "Grenzöffnung" von 2015 klagen will, sondern auch von Politikern der etablierten Parteien.
"Geht's auch 'ne Nummer kleiner?", fragte die ZEIT-ONLINE-Redakteurin Katharina Schuler hier unlängst. Die Antwort lautet: Natürlich ginge das. Es ist nur offenbar nicht gewünscht, denn der Rekurs auf den "Rechtsstaat" bringt handfeste strategische Vorteile: "Recht" und "Rechtsstaat" sind auratische Begriffe, die sich über die Fährnisse der Tagespolitik erheben und zivilreligiös aufgeladen sind. Zugleich ist "Rechtsstaat" ein positiv besetzter deutscher Erinnerungsort, der an die Geschichte des deutschen Liberalismus gemahnt – Traditionslinien von Hambach bis Weimar, die nach dem Ende der NS-Herrschaft zum Bezugspunkt des neuen bundesrepublikanischen Selbstverständnisses avancierten.
Kulturkampf der "Mitte"
Wer hier andockt, verschafft sich nicht nur höhere legitimatorische Weihen. Er löst sich zugleich von der Pflicht, "Sachargumente vor(zu)bringen", wie Daniel Thym in seiner Replik auf die "Erklärung 2018" schrieb. Doch die exzessive Bezugnahme auf den Rechtsstaatsbegriff in der aktuellen Debatte um Flüchtlingspolitik und Innere Sicherheit hat noch weiterreichende Dimensionen: Sie dient als symbolische Waffe in einem Kulturkampf, der sich mit konservativ-autoritärer Stoßrichtung gegen den politischen Liberalismus richtet – und dabei klassisch "liberale" Topoi im Sinne der eigenen Interpretation aushöhlt, verkürzt und umdeutet.
Sprachliche Kapermanöver dieser Art gelten als typische metapolitische Strategie der Neuen Rechten. Doch das Bestreben, den "Rechtsstaat" im autoritaristischen Sinne neu zu rahmen und seine vermeintliche 68er-Version abzuwickeln, hat längst auch Teile der bürgerlichen "Mitte" erfasst. Der gegenwärtige Deutungsstreit ruft dabei jäh ins Bewusstsein, dass der bloße Begriff "Rechtsstaat" semantisch weitaus instabiler und historisch stärker umkämpft ist, als es das vorherrschende bundesrepublikanische Verständnis nahelegt.
Autoritärer "Rechtstaat" versus liberaler "Rechtsstaat"
Schon der Staatsrechtler Carl Schmitt entwickelte in den 1920er-Jahren ein autoritäres "Rechtsstaats"-Modell, das die liberalen Vorstellungen seiner Weimarer Zeitgenossen fundamental infrage stellte: Da sich Politik nach Schmitts Logik wesentlich in Freund-Feind-Bestimmungen verwirklichte, konnte er auch den "Rechtsstaat" nur im Rahmen konfrontativer Konfliktsituationen fassen. Letztlich, so schreibt er in Der Begriff des Politischen, hätten sämtliche politischen Schlüsselworte einen kämpferischen ("polemischen") Charakter. Sie blieben "unverständlich", solange man nicht wisse, wer durch sie "getroffen, bekämpft, negiert und widerlegt werden" solle.
Von hier aus konstruierte Schmitt das Ideal eines starken Staats, der innerhalb seines Territoriums für "vollständige Befriedung" sowie "Ruhe, Sicherheit und Ordnung" sorgt – notfalls ("in kritischen Situationen"), indem er selbst den inneren "Feind" bestimmt und damit seine politische Souveränität bekundet.
Echos jenes kämpferischen "Rechtsstaats"-Konzepts hallen dieser Tage auf beunruhigende Weise in den Äußerungen von CSU-Politikern wie Horst Seehofer oder Alexander Dobrindt und anderen Vertretern des rechten Unionsflügels wider. Der "autoritäre Liberalismus", den Schmitt und andere "konservative Revolutionäre" in den 1920er-Jahren als radikale Antwort auf die Instabilität der Weimarer Republik und die Fliehkräfte ihrer Zeit entwickelten, kehrt im Zuge der Globalisierungsverunsicherung unter verändertem Vorzeichen in die Debatte zurück – befeuert von neuen "Krisen"-Erzählungen, die staatlichen Kontrollverlust im Angesicht von "Massenmigration", "Terror" und "Kriminalitätszuwachs" beschwören.
Vor dieser zum Popanz stilisierten Gefahrenkulisse nimmt der autoritäre "Rechtsstaats"-Diskurs eine folgenschwere semantische Verschiebung vor: Er verengt die Idee "Rechtsstaat" auf die Durchsetzung von Staatsgewalt im Namen von Sicherheit und Ordnung, während der Schutz des Einzelnen vor staatlicher Willkür und die staatliche Pflicht zur Garantie individueller Freiheitsrechte – zwei Kernelemente des liberalen Rechtsstaatsbegriffs – in den Hintergrund treten und zunehmend als hinderlich wahrgenommen werden.
Rechte Diskursstrategien
Der "Rechtsstaat" degeneriert dabei zur bloßen "Law&Order-Anwendungsmaschine", wie Maximilian Pichl im Verfassungsblog schreibt – und er kann, derart gerahmt, als legitimierendes Label für rechtsstaatlich grenzwertige Projekte instrumentalisiert werden: Für verschärfte Polizeigesetze, die bei "drohender Gefahr" exzessive Überwachungsmaßnahmen und andere staatliche Zugriffe erlauben – so wie aktuell in Bayern. Für den Plan, Flüchtlinge, getrennt von der übrigen Gesellschaft, in sogenannten Ankerzentren zu kasernieren, um dadurch mehr "Sicherheit" und schnellere Verfahren zu ermöglichen. Für das Speichern von Daten psychisch Kranker, die vermeintlich das Allgemeinwohl gefährden. Oder für "zügige" Abschiebungen, selbst in hochgefährliche Länder wie Afghanistan.
Doch die Wortführer des autoritären Liberalismus verlagern den Aufgabenschwerpunkt des "Rechtstaates" nicht nur mehr und mehr vom Individuum auf das Kollektiv. Sie bringen ihn zudem mit bemerkenswerter Nonchalance gegen vermeintliche "Feinde" und Nicht-Dazugehörige in Stellung. Um es mit Carl Schmitt zu sagen: Jetzt wird klar benannt, wer durch den "Rechtsstaat" "getroffen, bekämpft, negiert und widerlegt werden" soll, an vorderster Front: störende Zwischenrufer, die mit dem Verweis auf das Grundgesetz gegen gefährdete Bürgerrechte oder potenziell menschenrechtswidrige Abschiebungen mobilmachen.
Innere und äußere "Feinde"
Kritische Einwände dieser Art werden als "moralistisch" und somit "links" markiert und als totalitäre Angriffe auf die rechtsstaatlich fixierte Meinungsfreiheit gedeutet: eine Kopie rechter Diskursstrategien, die machtvolle Realitätsbilder erzeugt – ähnlich wie Alexander Dobrindts diffamierende Rede von der "Anti-Abschiebe-Industrie".
Die Wortwahl des CSU-Politikers bekräftigt dabei nicht nur die Sprache der Rechten, deren Korruptionsrhetorik nun auch die Affäre um die Bamf-Bescheide zur eigenen Bestätigung nutzt. Wenn das Engagement von Asylrechtsanwälten in böswilliger Weise als Camouflage für Profitgier und Selbstbereicherung gedeutet wird, finden Politiker der "Mitte" zugleich Anschluss an rechte Antimenschenrechtsdiskurse – verdichtet in Schmitts Diktum: "Wer Menschheit sagt, will betrügen". Passend dazu offenbart Dobrindts Rede eine Logik, die Asylsuchende – zumindest auf der Ebene des Gedankenspiels – von ausgesuchten Serviceleistungen des deutschen Rechtsstaats ausschließen will, in diesem Fall: der Möglichkeit, bei drohender Abschiebung auf der nächsthöheren Instanz zu klagen.
Tribalisierung des "Rechtsstaats"
Im Zuge solcher Überlegungen wird das Grundgesetz zum deutschen Stammesprivileg verkürzt. Gleiches gilt für den sogenannten Pakt für den Rechtsstaat, der auf Betreiben der Union im Koalitionsvertrag festgeschrieben wurde und sich als tribalistisches Komfortzonen-Versprechen für die besorgten Bürger dieses Landes entpuppt. Die geplante Großoffensive zur "Stärkung von Justiz und Polizei" wird auf der Homepage der CDU/CSU-Fraktion offensiv als Kampf gegen "Mafiabanden", "arabische Clans" und "No-go-Areas" beworben. All diese Begriffe suggerieren "Ausländerkriminalität", gegen die sich der "Rechtsstaat" mit mehr Polizei und mehr Sicherheitsaufrüstung wehren muss. Andernfalls verspielt er das Vertrauen der Bevölkerung, wie es das populistische Mantra ein ums andere Mal betont.
Von hier aus ist es nicht weit zu Christian Lindners Bäckerei-"Anekdote", die "Rechtschaffenheit" als intrinsische moralische Qualität von Menschen mit mitteleuropäisch-deutschem Aussehen voraussetzt, während Zuwanderer ihre Redlichkeit erst durch Leistung beglaubigen müssen. Vor allem aber triggern Denkschablonen dieser Art das vermeintlich "gesunde Rechtsempfinden" vieler Bürger, das – wie Schmitt – mit den "gespenstische(n) Abstraktionen" des liberalen Rechtsstaats hadert, das "kurze Prozesse" statt aufwändiger Verfahren fordert und namentlich bei Tätern mit Migrationshintergrund die "volle Härte" des Gesetzes einklagt. Wo Bauchgefühle regieren, lassen sich Affekte und Zustimmungswerte mobilisieren – und hier paart sich politisches Kalkül mit der aufmerksamkeitsökonomischen Provokationslust vieler Medien.
Wider das "gesunde Rechtsempfinden"
Als ein israelischer Kippaträger vor einigen Wochen in Berlin von einem syrischen Flüchtling verprügelt wurde, schrieb der Chef der Welt am Sonntag, Peter Huth: "Der syrische Antisemit mit Schutzstatus kann nicht anders behandelt werden als der deutsche Antisemit mit Staatsbürgerschaft. Bestrafen muss man beide, rauswerfen möchte man beide. Bei dem deutschen Antisemiten geht das nicht. Bei dem Syrer … warum eigentlich nicht?"
Warum eigentlich nicht? – Weil Flüchtlings- beziehungsweise subsidiärer Schutz kein Gastrecht ist. Weil die Genfer Flüchtlingskonvention und andere völkerrechtliche Bestimmungen auch Deutschland binden. Weil die Konvention Ausweisungen in Länder verbietet, in denen konkrete Gefahr für den Leib, das Leben und die Freiheit des Betroffenen droht und weil ein einzelnes Land nicht willkürlich die Schwelle für die Aufhebung des Schutzstatus absenken kann. In anderen Worten: Es handelt sich hier um eine Symboldiskussion – ein unrealisierbares Planspiel, das dennoch politische Wahrnehmungen formt.
Trotzdem oder gerade deshalb ist sachliche Gegenrede gefragt – Aufklärung über die tatsächliche Rechtslage und darüber, warum Rechtsstaat manchmal wehtut, ja: wehtun muss. Der Chor der liberalen Gegenstimmen muss die vorausgaloppierende Diskursverschiebung mit eigenen Deutungsrahmen und Erzählungen kontern – und er muss lauter werden. Viel lauter als bisher.
Verena Weidenbach lebt mit ihrer Familie in München. Sie arbeitet freiberuflich als TV-Autorin und -Übersetzerin und schreibt politische Texte für das Blog "Starke Meinungen". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". |
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