Freitext: Robert Prosser: Der Krieg hat einen Sklaven aus mir gemacht

 
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22.05.2018
 
 
 
 
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„Der Krieg hat einen Sklaven aus mir gemacht“
 
Um dem Massaker von Srebrenica zu entkommen, floh der damals 18-jährige Emin ins Gebirge. Auch 22 Jahre später kann er die Angst, die Schreie, die Toten nicht vergessen.
VON ROBERT PROSSER

 
Freiwillige tragen im Juli 2105 Särge mit identifizierten Opfern des zwanzig Jahre zurückliegenden Massakers von Srebrenica © Matej Divizna/Getty Images
 

Der Irrweg Emins begann am frühen Morgen des 12. Juli 1995. Tags zuvor war Srebrenica von der bosnisch-serbischen Armee eingenommen worden. Ihr Befehlshaber Ratko Mladić hatte am Stadtrand auf den Stufen eines Cafés angekündigt, als Revanche für 500 Jahre osmanische Besatzung die Enklave zu erobern, durchzumarschieren bis Bratunac. Zwischen diesem Dorf nahe der Drina und den Steinstufen, auf denen sich Mladić für die Kameras in Pose warf, lag in Potočari der Stützpunkt des niederländischen UN-Bataillons. Die von Blauhelmen errichtete Safe Zone, in der Abertausend großteils muslimische Menschen Schutz vor den anrückenden Truppen erhofften, würde in den folgenden Tagen und Nächten zum Mittelpunkt eines Kriegsverbrechens werden, das aufgrund seiner Ausmaße in der jüngeren Geschichte Europas eine unvergleichlich grausame Position einnimmt.
 
Zweiundzwanzig Jahre später sitzen wir in der bosnischen Stadt Ilijaš vor einer Tankstelle. An den Tischen neben uns Einheimische bei Kaffee oder Bier, regelmäßig heulen Motoren auf, brettert die hiesige Jugend in hochfrisierten Autos über die Hauptstraße, um der kleinstädtischen Ereignislosigkeit ein wenig Angeberei entgegenzuhalten. Emin erzählt, dass ihn die Meldung vom Fall Srebrenicas an der Front erreichte. Er stopfte das Nötigste in seinen Rucksack, nahm Gewehr und Munitionsgürtel und ging in den Wald. Wie eine Vielzahl seiner Kameraden hatte er Tuzla als Ziel, eine nordwestlich gelegene Stadt. Dorthin, ins Gebiet der eigenen Armee, wollten jene, die Srebrenica verteidigt hatten. In einer losen, Hinterhalten und Artillerieangriffen ausgesetzten und schnell zersplitterten, mehrere Tausend zählenden Kolonne versuchten sie, den waffenmäßig überlegenen Serben zu entkommen. Tuzla erreichten nur ein paar Hundert. Der Großteil wurde im Sommer 1995 in den Wäldern Ostbosniens gestellt und – wie auch die in Potočari ausgesiebten männlichen Zivilisten – umgebracht.
 
Am ersten Tag seiner Flucht hörte Emin in der Ferne Schüsse, Schreie. Er kauerte sich hinter einen Baum, wartete, bis die Stille zurückkehrte. Er schlich voran, erreichte eine von Toten übersäte Lichtung. Zwischen leblosen, übereinandergeworfenen Körpern umhertappend, die von MG-Salven niedergestreckt worden waren, dachte Emin nicht ans Umkehren oder daran, dass die Mörder noch in der Nähe sein mochten. Dieser Anblick konnte nicht wahr sein, er musste im Wald einen falschen Schritt in eine albtraumhafte Parallelwelt getan haben, und er stolperte über die Toten auf den gegenüberliegenden Waldsaum zu, dem Versprechen der eigenen Rettung hinterher. Er gelangte in eine Schlucht, und auch dort Erschossene und Verletzte, aus dem Gebüsch und zwischen den Bäumen hervorrief oder flüsterte man ihm zu: „Hilf mir. Rette mich.“
 
Als Übersetzer begleitet mich Boris, den ich während der Recherche zu meinem Roman Phantome kennenlernte. Einer der Hauptcharaktere der Geschichte, die von Österreich bis nach Bosnien und von 1992 bis 2015 reicht, ist ihm und seinen auf bosnisch-serbischer Seite durchgestandenen Kriegserfahrungen nachempfunden. Gegen Ende des Abends werden sie ihre jeweiligen Erlebnisse teilen: Emin, der Muslim im Talkessel von Srebrenica, Boris, der im Vlašić-Gebirge stationierte Serbe, und es wird zu meiner Überraschung ein von beidseitigem Lachen unterbrochenes Darbieten von Anekdoten sein.

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