Freitext: Katja Oskamp: Die Einsamkeit im sechsten Stock

 
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24.05.2018
 
 
 
 
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„Die Einsamkeit im sechsten Stock“
 
Unsere Autorin ist Schriftstellerin und arbeitet nebenher als Fußpflegerin in Marzahn. Im Frühling blühen dort die Kirschbäume, die Hasen hoppeln. Aber die Idylle trügt.
VON KATJA OSKAMP

 
© Lena Mucha für ZEIT ONLINE
 
 
Dieser Text ist Teil unserer Miniserie „Fußpflege in Marzahn“. Alle Folgen finden Sie hier.
 
Das ganze Jahr über weht in der Ostberliner Plattenbausiedlung Marzahn ein kräftiges Lüftchen. Ich erkläre mir das mit der Nähe zum flachen Brandenburger Umland, über das die gefürchteten sibirischen Fallwinde hinwegsausen, um mit unzähmbarer Wucht direkt in Marzahn einzufahren, sich zwischen den Hochhausriesen in Windkanälen zu bündeln und alles, was nicht mit vollem Heimwerkereinsatz festgelötet ist, von den Balkonen zu fegen – Sitzkissen, Geranienkästen, Sonnenschirme.

Im Mai sprießt und grünt es in Marzahn und schäumt in allen Tönen zwischen den Hochhäusern hervor. Auf der Wiese vor dem Studio, in dem ich als Fußpflegerin arbeite, stehen Kirschbäume. Im April erblühten sie in üppigem Weiß, bis der Wind die Blütenblätter wie Schneeflocken über die Wiese trieb. Bald werden die Früchte reif sein und lauter Vietnamesen anlocken, Leichtgewichte, die in den Ästen herumklettern, um kostenlos zu ernten. Ein Taubenpaar wohnt hier, und abends, wenn es dunkel geworden ist, hoppeln Feldhasen durchs Gras.

Meine Chefin – ich nenne sie Tiffy – ist sechs Jahre älter als ich, eins achtundfünfzig groß und trägt einen Bob mit ausrasiertem Nacken. Alles, was Tiffy erlebt, erlebt sie hier, denn sie ist immer im Studio, Montag bis Freitag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Tiffy bietet Kosmetikbehandlungen, Massagen und Fußpflege an. Ich komme mittwochs und freitags und unterstütze sie in der Fußpflege. Tiffys Arbeitstage gehen nicht selten von acht bis zwanzig Uhr, aber reich wird sie davon nicht. Tiffys Lohn sind zufriedene Kunden und ein prall gefülltes Terminbuch.

Arme, Augen, Münder aufgerissen

Im Frühling bleiben Tiffy und ich gern für einen Moment in der geöffneten Tür stehen, wenn wir unsere Kundinnen verabschiedet haben. Wir schlürfen an unseren Kaffeepötten, halten die Nasen in die Sonne oder schauen den Passanten zu. Tiffy kennt viele von ihnen mit Namen und grüßt sie, zum Beispiel die beiden Lesben, die auf der Wiese vor unserem Studio regelmäßig mit ihren bulligen Hunden Gassi gehen. Kinder mit Schulranzen und Sportbeutel trödeln durchs Gras, Omis zuckeln an Rollatoren vorbei, Berufstätige schleppen Einkäufe nach Hause. Junge Frauen schieben Kinderwägen, und manchmal düst meine Kundin Frau Blumeier, den Fahrtwind im Haar, in ihrem schnittigen Elektrorollstuhl um die Ecke und winkt uns. Tiffy und ich amüsieren uns über den Anblick und winken fröhlich zurück. Schon empfangen wir unsere nächsten Kunden; die Tür geht zu, die Arbeit weiter und leicht von der Hand.


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