Angela Merkel bereist China, und Deutschland redet mal wieder davon, dass die Chinesen kommen. Die Neue Seidenstraße, eine chinesische Infrastrukturvision, gilt als Schaukastenprojekt der
chinesischen Offensive nach Westen. Bedroht uns das in Europa? Wie sollten die Bundesregierung und die EU reagieren?
In den Städten Zentralasiens ist
China längst allgegenwärtig. Bei Besuchen in Bischkek, in Taschkent, in Almaty in der jüngeren Zeit sah ich Waschmaschinen und Fernseher, Kleinlimousinen und Lastwagen, Telefone und Computer meist nur aus China. Die Chinesen bauen in diesen Ländern auch neue Straßen und wollen moderne Schnellbahnlinien verlegen. In Europa fällt Chinas Ausgreifen noch nicht so ins Auge. Aber an strategischen Punkten haben chinesische Konzerne schon
investiert. Im lärmenden
Hafenchaos von Piräus bei Athen fällt der sorgsam umzäunte, nagelneue Teil auf: der Containerhafen, Chinas Paradeportal nach Europa. Jetzt wollen Chinesen die Bahnlinie von Belgrad nach Budapest modernisieren. Die Führung in Peking baut und bringt das Geld gleich mit, in Form von Krediten, die Abhängigkeiten schaffen.
So läuft das auf der Seidenstraße, die der deutsche Geograf Ferdinand von Richthofen im 19. Jahrhundert erstmals so genannt hat. Um zu begreifen, welche Bedeutung die Seidenstraße für Europa hat, muss man ihre Geschichte kennen. Der Versuch, die riesige Landmasse zwischen Europa und China zu erschließen, mündete schon früher im großen geopolitischen Tauziehen. Konflikte waren garantiert. Das Ziel war, den eurasischen Kontinent mit seinen Binnenmeeren, Steppen, Wüsten, Gebirgen beherrschbar und überwindbar zu machen. Wem es gelang, in überschaubarer Zeit Waren, Menschen oder auch Religion oder Ideologien über große Strecken zu transportieren, hatte gewonnen.
Im Römischen Reich kam die Seide aus China über den weiten Landweg ans Mittelmeer. Der exotische weiche, aber feste Stoff umschmeichelte die Körper reicher Römer. Von Osten kamen aber nicht nur Waren, sondern auch Krieger. Sie fielen nach langer Wanderung nach Westen in das Römische Reich ein, die Hunnen, die Vandalen, die Goten. Unter dem steten Ansturm kollabierte das Weströmische Reich, während Byzanz erst im Mittelalter den eingewanderten Turkvölkern aus Zentralasien unterlag.
Die Richtung konnte aber auch wechseln. Religionen verbreiteten sich von Westasien weiter in den Kontinent, erst das Christentum, später der Islam. Viel später durchsetzten Ideologien wie Nationalismus, Sozialismus, Kommunismus von Europa kommend ganz Asien. Liberale Ideen waren jenseits der Wirtschaft nicht ganz so erfolgreich.
Diese multiplen Seidenstraßen verloren zwischenzeitlich an Bedeutung. Dem Niedergang der Landmächte wie des Mongolischen und Chinesischen Reichs folgte ab dem 15. Jahrhundert der Aufstieg der Seemächte. Erst besegelten Portugiesen und Spanier die Weltmeere, dann die Engländer. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts beherrschten die Amerikaner die Ozeane. Der Seetransport wurde billiger, schneller und weniger gefährlich als der beschwerliche Weg durch Asien.
Doch der Kampf um die Seidenstraße ging weiter. Im 19. Jahrhundert rangen Russland und Großbritannien um Einfluss. Dann bauten die Deutschen Eisenbahnlinien im Nahen und Mittleren Osten – und die Briten sprengten sie wieder. Nach dem Ende des Kalten Krieges versuchten die Amerikaner, die russische Vorherrschaft in Zentralasien durch Pipeline-Politik aufzubrechen. Neue Röhren leiteten die asiatischen Rohstoffe auf die Weltmärkte.
Heute ist der Niedergang der Seemächte offenbar. Großbritannien sinkt hin im Brexit-Leiden. US-Präsident Donald Trump zerstört die Institutionen und Allianzen, welche die USA zur einzigen Weltmacht gemacht haben. Dank amerikanischer Hilfe hat der Iran im Nahen Osten seit 2003 seinen Einfluss enorm ausgedehnt. Die Landmacht China steigt auf – und mit ihr Ostasien. China exportiert nicht nur Waren und Technik, sondern auch sein Modell: ein erfolgreiches kapitalistisches Land mit einer autoritär-illiberalen Verfassung. Diese langfristigen globalen Entwicklungen zu bekämpfen wird schwer. Man muss mit ihnen umgehen. So sagt es Merkel gern, und so macht sie es gerade in China, pragmatisch, augenblicksorientiert, wie sie ist.
Doch eine Antwort auf Chinas Ausgreifen ist das natürlich nicht. Deutschland und die EU hatten mal eine Zentralasien-Strategie entworfen, doch die liegt zehn Jahre zurück und ist längst überholt. Die chinesischen Investitionen entlang der Seidenstraße nach Europa hinein werden nicht mit ausreichenden Gegenangeboten beantwortet. Das hat nicht nur mit mangelnden Ideen zu tun, sondern mit Europas Bild von sich selbst.
Die EU und Deutschland wissen nicht, ob und wie sie angesichts von Brexit, Ukraine-Krieg, Polen-Zoff und Flüchtlingskrisen ihre Grenzen definieren sollen. Lieber enger oder weiter? Wo endet Europa? Wo soll der Einfluss der Europäischen Union enden? Derlei Fragen sind heute in der EU viel umstrittener als vor einem Jahrzehnt. Europa ist sich seiner selbst nicht mehr sicher.
Solche Mächte hatten es in der Geschichte stets schwer auf der Seidenstraße.