Freitext: Lena Gorelik: Sagt den Kindern nicht, dass sie falsch sind

 
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10.05.2018
 
 
 
 
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Sagt den Kindern nicht, dass sie falsch sind
 
 
Als ich ankam, sprach ich kein Wort Deutsch. Aber in der Schule gehörte ich dazu. Werteunterricht für Flüchtlingskinder, wie die Union vorschlägt, würde das verhindern.
VON LENA GORELIK

 
© Andreas Rentz / Getty Images
 
Die Farbe, die ich mir gemerkt habe, war bunt. Alles schien bunt, die Schulranzen glänzten, die T-Shirts der anderen Kinder, die Brotdosen, die sie – wir sprechen hier von Schwaben – Vesperdosen nannten, die Fahrradhelme – wir sprechen hier vom Anfang der Neunzigerjahre – in zwei Farben: Neonpink. Und Neongrün. Ich kam mir farblos vor, obwohl man mich in ein rotes T-Shirt gekleidet hatte, vielleicht lag es an der Farblosigkeit, die ich mitgebracht hatte: Die Erinnerung an den grauen Beton dessen, was ich als Schule und Zuhause kannte, braune Kleider mit schwarzen Schürzen, die wir als Schuluniform trugen, tauender, ergrauter Schnee, die Pfützen aus Matsch, in die wir hüpften oder die wir zu umgehen versuchten, die Uniformität des Alltags. Ich hatte Russland hinter mir gelassen, wobei das Hinter-mir-Lassen ein passives Verhältnis war: Man hatte mir gesagt, dass wir ausreisen würden; man hatte Deutschland gesagt; man hatte mich in den Nachtzug gesteckt, den nach Berlin, und später in diese Schule; man hatte auch gesagt, wir müssten den Hund zu Hause lassen, und dass das für Freunde und Verwandtschaft galt, da kam ich selbst drauf.
 
Der Schulhof, der deutsche, also bunt. Ich wackelte ins Klassenzimmer hinein, der Lehrer sprach Schwäbisch. Es hätte auch Hochdeutsch sein können, Chinesisch. Sachkundeunterricht hätte Deutsch sein können und Heimatkunde auch eine Märchenstunde (von mir aus auch Werteunterricht), ich verstand nichts. Ich lief den anderen hinterher, deren Namen alle gleich klangen, alles klang gleich oder flimmerte zu sehr, ich lernte die Sprache in Worten: Heft. Pause. Dann kam lange Zeit nichts, und später kam „meinetwegen“, ein Wort, um dessen Bedeutung – war es ein Ja?, ein Nein?, ein Vielleicht? – nicht wusste, aber dessen Klang ich genoss: So ein langes Wort (das ich aussprechen konnte!), um etwas zu bejahen oder eben zu verneinen, ein schönes, deutsches Wort.
 
Das Gefühl, nicht falsch zu sein
 
Meine Mutter, bei der ich mich – das fällt mir erst jetzt beim Schreiben auf – nie dafür bedankt habe, hatte mit der Schulleitung gestritten und dafür gekämpft, dass ich sogleich in eine normale Klasse komme, dieses elfjährige Kind, das zurückgestuft und aufgrund nicht vorhandener Deutschkenntnisse in die Grundschule geschickt wurde anstatt in das, was man damals, politisch unkorrekt, wie man aus heutiger Sicht noch war, „Ausländerklasse“ nannte. Ich verstand nichts, auch nicht, warum meine russischen Freunde, mit denen ich morgens das Asylantenwohnheim, in dem wir alle lebten, verließ, alle in eine Klasse gehen durften, das Privileg hatten, nebeneinandersitzen und über russische Witze lachen zu dürfen, warum man nur von mir verlangte zu verstehen, was evangelischer und was katholischer Religionsunterricht war, wo ich doch Religion aus der glaubensfreien Sowjetunion gar nicht kannte.


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