10 nach 8: Sally McGrane über das Altersheim "Casa Verdi"

 
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09.05.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Ihre Familie bleibt die Musik
 
In Mailand können Musiker und Musikerinnen ihrer Leidenschaft zeitlebens treu sein. Giuseppe Verdi hat dort ein Altersheim für sie gegründet. Was für ein lebendiger Ort.
VON SALLY MCGRANE

Zwei Bewohner der Casa Verdi, dem Altersheim für Musiker und Musikerinnen, in Mailand © Alfred Eisenstaedt/The LIFE Picture Collection/Getty Images
 
Zwei Bewohner der Casa Verdi, dem Altersheim für Musiker und Musikerinnen, in Mailand © Alfred Eisenstaedt/The LIFE Picture Collection/Getty Images
 

Seit ich als freie Journalistin arbeite, fällt mir etwas auf: Es gibt Ballungen von Themen, die sich mir nicht erklären. Natürlich führt ein Artikel über Architektur oft zum nächsten Artikel über Architektur, aber es gibt auch Muster, die von selbst entstehen und sonderbar sind.

Eine dieser seltsamen Häufungen hat mit Orten zu tun: In Paris, Amsterdam und Kopenhagen tauchte beispielsweise eine Geschichte nach der anderen wie aus dem Nichts auf. Oder in Krefeld: Ich hatte nur meine Berliner Nachbarin besucht, die dort aufgewachsen war, schon kam ich zurück, um über das bahnbrechende Schaffen der dortigen Amateurentomologen zu schreiben.

In diesem Jahr war es zum ersten Mal nicht ein Ort, auf den ich wieder und wieder stieß, sondern ein Thema. Und auch wenn ich bis vor Kurzem noch dachte, dass sich das eben so ergeben hat, bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher, nur einem Zufall gefolgt zu sein. Ich schreibe jetzt gehäuft über alte Menschen.

Der Elan der Alten

Die erste Geschichte führte mich nach Duisburg – übrigens nur zwanzig Minuten von Krefeld entfernt – ins Lehmbruck-Museum, das die ersten Führungen für Demenzkranke organisiert.

Eine Geschichte aufzuspüren, hat viel mit Instinkt zu tun. Ich weiß nie genau, warum es so ist, aber es kommt mir vor, als wäre da etwas, was für mein eigenes Leben von Bedeutung ist. Ich fragte mich deshalb nicht, warum mir die Führungen im Lehmbruck-Museum so ins Auge gestochen waren. Ich bin nicht auf das Schreiben über alte Leute spezialisiert, ich habe kaum Erfahrungen mit der Demenz und, um ganz ehrlich zu sein: Nach einer Stunde Museum bin ich erschöpft.

Es wurde ein unglaublicher Tag. Sybille Kastner, Mitarbeiterin des Museums, hat die Führungen entwickelt, nachdem die Mutter einer Kollegin an Demenz erkrankte; nicht zuletzt um ihre Kollegin zu unterstützen. Sie führte die Gruppe von zwölf Demenzpatienten und deren Betreuer durch die weißen Hallen des Museums und stellte einfache Fragen zu den Installationen der Künstlerin Rebecca Horn: Was sehen Sie? Wie fühlt sich das an? Die Gruppe antwortete voller Elan, und mir fiel auf, dass dieser Zugriff auf die Kunst es auch mir leichter machte, aufzunehmen, was ich vor mir sah.

Die Gesamtheit des Lebens erfahren

Bei einem Kunstwerk kreisten drei goldene Ringe langsam ineinander. "Nie würde ich meinen Ehering abnehmen", sagte eine Frau, während sie die Skulptur betrachtete.

"Interessant, dass sie das sagen", sagte Sybille Kastner. "Das Werk heißt Umschlungen in unendlicher Liebe."

"Ja", die Frau nickte, "wir haben immer alles zusammen gemacht."

Während ich einem Workshop zusah, bei dem Demenzpatienten den Nachmittag mit einer nahestehenden Person verbrachten und gemeinsam Kunstwerke anfertigten – ungefähr so, wie man das im Kindergarten macht –, dachte ich, dass ich mit meiner Lebensweise nur ein Stück vom Leben erfahre, nicht dessen Gesamtheit. Vielleicht, so erschien es mir, wäre es eine gute Idee, etwas häufiger auf diese Art zu leben und wenigstens ab und an zu pausieren und in der Gesellschaft eines geliebten Menschen ein paar Stückchen farbigen Stoff zusammenzukleben.

Verdi sah viele Musiker ihr Leben in Elend und Armut beschließen

Einen Monat später besuchte ich die Casa Verdi in Mailand. Als Biancamaria, eine Mitarbeiterin des Hauses, die Glastür mit den wie Leiern geformten Türgriffen zum wunderschönen alten Innenhof des Gebäudes aufstieß, drangen Klaviertöne von einem der Seitenflügel herüber. Biancamaria erklärte mir, dass hier 60 alte Musiker zusammenlebten. Die bis dahin älteste war 105 Jahre, als sie im letzten Jahr verstarb. 15 der hier lebenden Musiker sind schwer krank; die anderen sind in guter Verfassung und verbringen in diesem hohen Alter in vielerlei Hinsicht ihre Tage wie in ihrer Jugend: mit Musik und Gesang.

Kurz vor seinem Tod hat Giuseppe Verdi das Gebäude bauen lassen und die dazugehörige Stiftung gegründet. Verdi hatte viele Musiker ihr Leben in Elend und Armut beschließen sehen. Deshalb bat er den Architekten, der zugleich der Bruder seines Librettisten war, ein luxuriöses Altersheim für diese alten Musiker zu bauen, und hinterließ der Stiftung die Rechte an allen seinen Opern. Mehr als einhundert Jahre später arbeitet das Seniorenheim noch fast wie zuvor, wenngleich die Entscheidung, dort den Lebensabend zu verbringen, inzwischen eher aus Gründen des Lebensstils und weniger aus ökonomischer Notwendigkeit resultiert.

Auf dem Tisch Streichinstrumente

Und welch imposanter Lebensstil hier anzutreffen ist! Eine Bewohnerin ist eine 95 Jahre alte Sopranistin, die an vier Abenden der Woche vier Stationen mit der Metro zur Scala fährt. Eine andere streift in Pelz und hochhackigen Schuhen durch die Säle, manchmal bricht ein kurzes Stakkato aus ihr hervor: "Ha ha ha!"

Im Laufe des Tages sprach ich mit Bewohnern, die sich dort wohlfühlten, und anderen, die eher unzufrieden waren; gemeinsam aber war ihnen, dass sie alle sich nicht nur nach wie vor mit dem Leben auseinandersetzten, sondern vor allem mit dem, was zeitlebens ihre Leidenschaft gewesen war.

Das Alter hat sie nicht gnädig gemacht, so fasste es die neunzehnjährige Beatriz zusammen, eine der 16 jungen Studierenden, die unter der Bedingung, ihre Mahlzeiten gemeinsam mit den Senioren einzunehmen, in der Casa Verdi leben können. Mittags sitzt Beatriz mit einer 95 Jahre alten Musikdozentin namens Luciana zu Tisch. "Luciana hat mir erzählt, dass sie ihren Studenten nie die Bestnote gegeben hat", sagte Beatriz später in einem großen Wohnzimmer. Auf dem in der Mitte stehenden Tisch lagen einige Streichinstrumente, die von den Bewohnern benutzt werden können. "Niemand hätte sie je berührt. Luciana sagte, es gehe nicht nur um Technik, etwas muss einen bewegen, etwas muss in mir etwas Neues erschaffen."

Beatriz hielt inne. "Für mich ist es gut, das zu hören und mich daran zu erinnern, dass ich den ganzen Tag studiere, um jemanden zu berühren."

Ein Schlüssel zum guten Leben

Ein Bariton-Opernsänger sagte mir, er lebe nicht gern mit andern alten Leuten zusammen, weil sie ständig einfach einschliefen. Beim Bingo allerdings traf ich Bissy Roman, eine Frau, die einen riesigen, mit Edelsteinen verzierten Ring und Seidenschals trug. Ursprünglich aus Rumänien stammend, hat Bissy in der ganzen Welt gearbeitet. Sie erklärte mir, dass sie nie geheiratet oder Kinder bekommen habe – "Musik ist meine Familie" – und deshalb eine Lösung für das Alter finden musste. Vor zwei Jahren ist sie in die Casa Verdi gezogen. Vieles, sagte sie, habe sie in ihrem Leben unternommen, und es falle ihr nicht leicht, mit dem Älterwerden übereinzukommen. "Wenn man nicht mehr arbeitet, ist es schwer, ein anderes Leben zu finden", bedauerte sie. "Alter ist Alter, man hat nichts mehr zu tun." Sie spricht mindestens sieben Sprachen (ich habe sie sofort als Übersetzerin angeworben) und unterrichtet noch.

"Er ist ein Genie, aber niemand versteht ihn!", frohlockte Bissy, als sie mich einem der jungen Pianisten vorstellte. Der grinste, als sie anfügte: "Niemand außer mir!" Bissy hatte mir gegenüber erwähnt, wie sehr es ihr gefalle, hier mit den Studierenden zu leben, und ich fragte mich später, ob das ein weiterer Schlüssel zum guten Leben sei – nicht nur, um der Aktivität willen aktiv zu bleiben, und auch nicht von den Leidenschaften und dem Interesse an anderen abzulassen.

"Ich bin froh, hier zu sein", sagte sie, bevor sie sich zu einem der regelmäßig von den Studierenden in der Casa Verdi veranstalteten Konzerte auf den Weg machte. "Es gibt hier jede Menge Musik, viele Leute ringsum, die allesamt Musiker sind. Das gibt einem das gute Gefühl, lebendig zu sein."

Aus dem Englischen übersetzt von Heike Geißler


Sally McGrane kommt aus Berkeley in Kalifornien und lebt seit mehr als zehn Jahren in Berlin. Sie ist Journalistin und schreibt unter anderem für die "New York Times" und den "New Yorker". Ihr Spionageroman "Moskau um Mitternacht" ist im März 2016 im Europaverlag erschienen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". 


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