Freitext: Dana Grigorcea: In der Reue liegt die Kraft

 
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06.03.2018
 
 
 
 
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In der Reue liegt die Kraft
 
 
Im Minutentakt wird heute alles bilanziert. Aber was wir verlernt haben: unsere Fehler zu bedauern. Dabei ist diese Fähigkeit nicht nur der Ursprung aller Literatur.
VON DANA GRIGORCEA

 
Der russische Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin © Keystone / Getty Images
 
Neulich auf einem Fest unter Literaten, bei flackerndem Kerzenlicht, sprach man über große Themen, die früher ausgiebig behandelt, heute aber in der Literatur nahezu verschwunden sind. Zum Beispiel die Reue. Wo gibt es noch das seitenweise Klagen über die eigenen Verfehlungen, das Grübeln über die eigene Unzulänglichkeit, über Gut und Böse, und dann den Schrecken, dass es vielleicht zu spät ist für eine Wiedergutmachung? Wie soll Reue vorkommen, wenn Selbsteingeständnisse und echtes Bedauern fehlen, warf ein Kollege ein. Das wurde heftig diskutiert. Es gibt ja auch andere Erzähltechniken, fragmentarisch, das Bedauern kommt schon noch vor, fragmentarisch eben, oder etwa nicht? Man bedenke hingegen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die immer schnell, im Takt der neuen Medien, alles bilanziert und optimiert, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Eine Zurschaustellung der eigenen Fehler wirkt in diesem getakteten Alltag eher geschmacklos. In der Literatur hingegen wird sie immer wieder exerziert, wenn auch meist nur aus Effekthascherei und Marktschreierei, als falsches Bekenntnis und in der Wolle gefärbte Eitelkeit. Echtes Bedauern wäre da ein zu leises Gefühl – und damit in der Kunst wirkungslos.
 
Auf dem Nachhauseweg dachte ich, dass es ganz bestimmt ein Bedauern war, das mich zu meinen ersten Geschichten gebracht hat: nicht spontan reagiert, nicht die richtigen Worte gefunden zu haben. Diese kamen mir immer erst im Nachhinein in den Sinn, und dann auch gleich mit einer ganzen Geschichte. Eben der, wie es hätte anders kommen können.
 
Meinen Arm gefasst, die Augen glänzend
 
Wie gerne ich Bücher lese, in denen um die richtigen Worte gerungen wird! Dieser Aha-Effekt, endlich in einem gelungenen Ausdruck etwas Gespürtes erfasst zu haben, ist mein Zugang zur Lektüre. Immer noch merke ich mir ganze Textpassagen, die mir gefallen, auch Gedichte.
 
Niemand kann mehr Gedichte rezitieren, hieß es vor zwei Jahren im Schweizer Fernsehen. Ein Fernsehteam hatte Besuchern eines Literaturfestivals das Mikrofon hingehalten, und keiner von ihnen mochte ein Gedicht rezitieren. Letztes Jahr hat das Schweizer Fernsehen übrigens mich angehalten, mit einem Literaten-Literaturquiz. „Wo befinden sich Dürrenmatts Chemiker?“ „In der Psychiatrie.“ „Falsch! Das sind die Physiker!“
 
Aber zurück zu den Gedichten. Gleich nach jenem Festival, vor zwei Jahren, als in mehreren Schweizer Medien verkündet wurde, dass niemand mehr Gedichte kennen würde, bin ich auf Lesereise nach Sibirien geflogen. Es war meine erste Russlandreise und gleich eine ziemlich lange. In Moskau stieg ich auf einen kleinen Flieger in Richtung Tjumen um. Wir waren eine Handvoll Leute an Bord. Als ich zu meiner Sitznachbarin blickte, war mir, als hätte ich eine Zeitreise getan: Die ältere Dame trug einen rot-blauen Pullover mit Schulterpolstern und eine Vokuhila-Frisur, die weißen Haare mit violettem Schimmer.


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