Freitext: Friedrich Ani: Eine Meinung allein macht noch keinen klaren Kopf

 
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23.03.2018
 
 
 
 
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Eine Meinung allein macht noch keinen klaren Kopf
 
 
Der Schriftsteller Uwe Tellkamp meint, viele Flüchtlingen kämen nur wegen der Sozialsysteme. Die meisten Deutschen sehen das anders. Woher ich das weiß? Ich bin das Volk.
VON FRIEDRICH ANI

 
© Sophia Kembowski/dpa
 

Der deutsche Schriftsteller Tellkamp aus Dresden behauptete kürzlich, einhundert minus fünf Prozent der Flüchtlinge kämen nicht deswegen zu uns, weil in ihren Heimatländern Krieg, Hunger und Zerstörung den Alltag bestimmten. Vielmehr wäre ihr Plan, in die deutschen Sozialsysteme einzuwandern. Ein Hammersatz. Zwar blöd, falsch, rassistisch und zynisch, aber superpraktisch, um die Leute, also uns, hinterm Ofen vorzulocken.
 
Der Suhrkamp Verlag, in dem Tellkamps Bücher erscheinen (meine übrigens auch), twitterte rasch, eine derartige Auffassung entspräche nicht der Haltung des Verlags zu diesem Thema. In Zeiten blöder, falscher, rassistischer, zynischer und rechtsradikaler Behauptungen landauf, landab eine Stellungnahme, die Respekt verdient. Finde ich. Sie nicht?
 
Hubert W., Braunschweig: „Dass das falsch sein soll, nur, weil Sie das so nicht wollen und erkennen, zeigt, dass Sie ein Systemschleimbeutel sind, weiter nichts.“
 
Manfred K., Plauen: „Bleiben Sie, wo Sie sind, stören Sie dieses Land nicht mit Ihrem Unfug, Sie sind ein Gesinnungsdepp wie alle anderen Ihres Schlages auch.“
 
Frauke Z., Bamberg: „Ekelhaft, einen renommierten Verlag auf die Weise in Misskredit zu bringen. Ich lese weiterhin die Bücher von Suhrkamp, und die Verfilmung des Romans Turm von Tellkamp war ein Meisterwerk.“
 
Henry F., Hannover: „Tellkamp sagt die Wahrheit. Und um das klar zu stellen: ich bin nicht ausländerfeindlich, ich bin inländerfreundlich.“
 
Paul G., Halle: „Wer die Augen vor der sich immer weiter ausbreitenden Umvolkung in unserem Land verschließt, so wie Sie, gehört zu der linksversifften Bande, die immer noch glaubt, der Araber und sein Islam sind Teil der Zivilisation. Sie tun mir leid, Sie armer Schreiberling.“
 
Edith M., Pullach: „Wer unsere Sprache nicht spricht, wer unseren Herrn Jesus verleugnet und wer unsere Frauen missbraucht, ist kein Deutscher. Punkt. Und zu Tellkamp: Nur weil er nachdenkt, darf man ihn nicht gleich verurteilen. Wir haben Kultur in diesem Land.“
 
Eberhard L., Bad Tölz: „Unter dem neuen Heimatminister werden die Dinge wieder in Ordnung gebracht, unsere Grenzen müssen geschützt werden, und das wird passieren. Der Einsatz von Schusswaffen darf kein Tabu sein, wenn es darum geht, unser Leib und Leben gegen potenzielle Attentäter zu verteidigen. Nur so lässt sich massenhafte Einwanderung gezielt verhindern.“
 
Heimat ist, was wir spüren
 
Ich bin ein Volksempfänger. Ich höre zu, ich notiere, ich schweife ab, ich über- und ich untertreibe, ich leide und ich lebe. Ich liebe dieses Land, und manchmal nervt es mich unbändig. Ich verehre deutsche Dichter und amerikanische, italienische und russische, französische, griechische und türkische, und oft lese ich zufällig Gedichte und Geschichten, bei denen ich das Herkunftsland der Autoren googeln muss.
 
Ich finde Google ziemlich faszinierend und den Duden und den Brockhaus immer noch fantastisch. Geboren wurde ich als Halbsyrer und Halbschlesier in Oberbayern, und ich spreche bayerisch und deutsch, aber wenn ich einen Niederbayern in der Muttersprache reden höre, einen Oberpfälzer, eine Sächsin oder Friesin, wird es schwierig mit der Kommunikation. Doch dann fällt mir ein: Heimat ist nicht das, was wir hören, sondern das, was wir spüren. In meiner Heimatstadt München bin ich Erwachsener und Kind und daheim und manchmal so fremd wie in Berlin, wo ich mich in einen Metropolisten verwandle, oder in Hamburg, wo ich die Arme nach der großen weiten Welt ausstrecke, um dann doch wieder an der Brücke 10 zu versumpfen und glücklich zu sein. Jedes Jahr freue ich mich auf Leipzig im Frühling, auch wenn es mal wieder schneit, und ich ging beschwingt durch Weimar, Freiburg, Stuttgart, Gießen, Wernigerode, Rostock, Potsdam, Hannover, Köln, Quedlinburg, Nürnberg und so viele andere Klein-, Mittel- und Großstädte, Dörfer und Peripherien.
 
Die meisten Orte in Deutschland habe ich noch nie gesehen, und ich fürchte, bis zum Ende meines Lebens wird sich daran nicht viel ändern. Das macht nichts. Wo ich bin, ist ein Teil von Deutschland, und wo ich nicht bin, auch. Wir kennen uns nicht, Sie und ich, aber wenn wir uns schreiben oder sonstwie in Kontakt treten würden, verstünden wir uns, zumindest auf sprachlicher Ebene (außer, unsere Dialekte würden sich beharken, aber auch dann fänden wir, schätze ich, eine Lösung).

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