Lieber job,„Lesen macht tolerant“, sagte der Schriftsteller Daniel Kehlmann, der gerade mit seinem Buch Tyll in den Bestsellerlisten steht: „Aber es ist sicher keine Lösung, Romane mit Fallschirmen über Dresden abzuwerfen.“ Einige Wochen ist es her, dass wir dieses Zitat in ZEIT CAMPUS gedruckt haben. Wer das Interview noch nicht kennt: Wir haben es jetzt auch online veröffentlicht. Kehlmann, der Germanistik an der New York University lehrt, spricht darin über trigger warnings in Literaturseminaren, über Rechtsradikale an der Uni und über sein Unbehangen, in einem Amerika unter Donald Trump zu leben. Viel von dem, was Kehlmann sagt, finde ich überzeugend. Aber ob uns das Lesen von Romanen toleranter macht? Daran sind mir seit dem Abdruck Zweifel gekommen. Schuld daran ist auch ein Kollege von Daniel Kehlmann. Der Dresdner Uwe Tellkamp sagte neulich bei einer öffentlichen Diskussion: „95 Prozent der Migranten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung.“ Einen Beleg für diese, äh, überraschende Zahl konnte er nicht liefern. Dass er sich geirrt hat, wollte er aber auch nicht einräumen. Jetzt steht der Vorwurf des Ressentiments und der Intoleranz im Raum. Hat Tellkamp möglicherweise bloß zu wenige Romane gelesen? Das wäre eine einfache Erklärung, ist aber völlig unplausibel. Er ist ja Schriftsteller wie Daniel Kehlmann, hat mit Der Turm selbst einen Bestseller geschrieben und wurde von der Kritik gefeiert. Noch ein Beispiel aus Dresden: Susanne Dagen ist Zeitungsberichten zufolge jetzt Mitglied im Kuratorium einer Stiftung, die sich darum bewirbt, von der AfD als parteinahe Stiftung anerkannt zu werden. Dagen wird also eine Organisation beraten, deren Aufgabe es nicht zuletzt ist, AfD-Ansichten in der Gesellschaft zu verbreiten. Hat sie zu wenige Romane gelesen? Unplausibel: Sie ist Buchhändlerin und lebt davon, Romane zu verkaufen. Lesen macht tolerant? Ausgeschlossen ist das nicht. Aber es gibt dafür keine Garantie. Mit seinem zweiten Satz, dem mit den Fallschirmen, hat Daniel Kehlmann also wohl recht: Politische Konflikte lassen sich nicht durch literarische Care-Pakete lösen.
Herzliche Grüße, Oskar Piegsa Chefredakteur ZEIT CAMPUS
P.S.: OK, Romane helfen also nicht, aber macht uns das Lesen von Zeitschriften zu besseren Menschen? Davon bin ich selbstverständlich überzeugt! Die nächste Gelegenheit gibt es am 10. April, dann erscheint die neue Ausgabe von ZEIT CAMPUS. | | | | | © Evgeny Makarov | |
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