Freitext: Katja Oskamp: Mitten beim Sex is dit Bette einjekracht

 
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21.03.2018
 
 
 
 
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„Mitten beim Sex is dit Bette einjekracht“
 
Unsere Autorin ist Schriftstellerin und arbeitet als Fußpflegerin in Marzahn. Hier trifft sie Menschen, deren Geschichten sonst selten gehört werden. So wie Frau Blumeier
VON KATJA OSKAMP

 
© Sean Gallup/Getty Images
 
 
Die Vorurteile gegen die Plattenbausiedlung im Ostberliner Stadtbezirk Marzahn halten sich hartnäckig. Marzahn, heißt es, sei eine Betonwüste. In Wahrheit ist Marzahn quietschgrün, es gibt breite Straßen, genügend Parkplätze, intakte Gehwege und an Übergängen abgesenkte Bordsteinkanten, überall Rollpisten, und alles, was Räder hat, kommt bestens voran und ans Ziel.
 
Ein Vorurteil trifft allerdings zu: Plattenbauten sind hellhörig. Das Kosmetikstudio, in dem ich als Fußpflegerin arbeite, liegt ebenerdig am Fuß eines Achtzehngeschosses und setzt irgendwo im Haus jemand die Bohrmaschine an, fühlen wir uns hier unten wie beim Zahnarzt.
 
Frau Blumeier kenne ich seit zweieinhalb Jahren. Sie ist eine lustige, wache Person mit Berliner Schnauze, die jünger wirkt (Mitte fünfzig), als sie ist (Mitte sechzig). Sie wohnt im selben Hochhaus, in dem auch unser Studio ist, in der vierzehnten Etage. Stehe ich rauchend vor unserer Tür, sehe ich Frau Blumeier manchmal von Weitem. Wir winken uns zu, Frau Blumeier wendet per Joystick und rollt auf einen kurzen Plausch heran. Dann muss sie zur Physiotherapie, zum Einkaufen, zum Friseur oder zu einer Bekannten, düst davon in ihrem schnittigen Elektromodell, den Oberkörper nach vorn gebeugt wie ein Rennfahrer, und der Wind fegt ihr die Haare aus der Stirn. Die sechs km/h Höchstgeschwindigkeit, die ihr fahrbarer Untersatz hergibt, sind Frau Blumeier zu wenig. Sie würde lieber mit sieben, acht, neun km/h über die Piste rollen. Generell hofft Frau Blumeier auf Rückenwind, damit die Batterie länger durchhält.
 
„Du bist nicht krank.“
 
Erscheint sie alle sieben Wochen zum Termin, eile ich zur Tür, halte sie auf, rufe: „Kommse rin!“, und Frau Blumeier ruft: „Und setzense sich, wa?“. Sie fährt durch bis in die Fußpflege, parkt nah beim Thron (dem Fußpflegestuhl), steht allein aus dem Rollstuhl auf und schafft auch die zwei, drei Schritte auf ihren Knickbeinchen ohne meine Hilfe. Frau Blumeier macht alles, was irgendwie geht, selber, sogar die Behindertenwitze, und findet Rollstuhlfahrer, die sich „von Hacke bis Nacke bedienen lassen“, unmöglich. Sitzt sie auf dem Thron, ziehe ich ihr die Hausschuhe aus, Kinderhausschuhe der Firma Giesswein. Während ich ihre Füße wasche und abtrockne, plaudern wir über die neuesten Neuigkeiten, albern herum. Und dann hat Frau Blumeier diesen Satz im Repertoire, den sie oft anwendet, wie eine Zauberformel: „Wollt ick grade sagen.“ Alles, was ich sage, wollte Frau Blumeier gerade sagen. Auch was andere Leute sagen, wollte Frau Blumeier gerade sagen. Der Satz öffnet ihr Türen, ebnet ihr Wege. Sie ist eine Zustimmungskünstlerin.
 
Im Jahr 1955, als Tine Blumeier ein Jahr alt war, diagnostizierte man Poliomyelitis, kurz: Polio, Kinderlähmung. Sie kam ins Krankenhaus, dort zur Beatmung in die „eiserne Lunge“ und wurde mit knapp vier Jahren entlassen. Das Mädchen konnte höchstens sitzen und Brei essen, aber das weiß Frau Blumeier nur aus Erzählungen. An die Worte des Vaters hingegen erinnert sie sich: „Du hast ein paar Einschränkungen. Aber du bist nicht krank.“ Die Ärzte rieten, das Kind an einer Sonderschule anzumelden. Die Eltern hielten sich nicht an den Rat und schickten ihre Tochter auf eine polytechnische Oberschule. Bis auf den Sportunterricht konnte Tine Blumeier überall problemlos mithalten. Sie schloss die Schule ab, sie arbeitete als Sekretärin, sie heiratete. Von einer Schwangerschaft rieten die Ärzte dringend ab. 1990, mit sechsunddreißig Jahren, bekam Tine Blumeier einen Sohn. In dieser Zeit wurde ihr Betrieb abgewickelt. Auf dem Amt sagte man ihr, mit ihrer Behinderung habe sie im Westen ganz schlechte Karten. Da saß sie noch nicht im Rollstuhl, ging aber schon am Stock; das Post-Polio-Syndrom kündigte sich an: Muskelschwund. Während der Sohn mitten in der Pubertät steckte, starb sein Vater an Leukämie. Das, sagt sie, sei eine schwere Zeit gewesen.


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