Freitext: Barbi Markovic: Eine fünf Zentimeter breite Leuchtaura

 
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15.03.2018
 
 
 
 
Freitext


Eine fünf Zentimeter breite Leuchtaura
 
 
Aufgewachsen ist sie in einer Belgrader Arbeitersiedlung. Dann entstand der neue Turm, in dem sie nun lebt: Eagle Hills. Hier ist jede Frau schön und jedes Kind gesund.
VON BARBI MARKOVIC

 
(c) Julia Gaisbacher/Bildrecht Wien
 
1.
 
Preston-Fleck vom neunundzwanzigsten Stock liegt noch in ihrem frisch gemachten Bett. Seit dreieinhalb Jahren wohnt sie weit oben in den Eagle Hills. Sie ist in Belgrad aufgewachsen, in einer Arbeitersiedlung namens Labudovo brdo. Sie hatte ein heiteres Wesen, etwas Berufsglück und doppeltes Heiratsglück, zuerst mit Fleck, dann mit Preston. Sie konnte besser leben. Sie konnte hinauf, aber sie wusste nicht, wohin. Zufällig wuchs zur gleichen Zeit der neue Turm aus der niedergewalzten Armensiedlung vom Fluss hinauf und zum Himmel empor.
 
Symbole der Macht kündigen Fortschritt an. Eagle Hills.
 
Sie geht zum Tischlein, öffnet den Brief und sieht sich das leere Blatt an. Sie atmet die Leere ein, die Ruhe gehört zum Stil. Eine weiße Kaffeetasse hält sie in der linken Hand. Buchstaben sind Schmutz auf Papier. Weniger ist mehr.
 
Bezaubernd hohe Fenster. Eagle Hills.
 
Etwas Banales passiert: Sie schüttet Kaffee aus. Dann will sie eine Küchenrolle aus dem Putzraum am Gang nehmen und findet in der Ecke eine Walnuss. In den Eagle Hills feiert man keine religiösen Feiertage, zumindest nicht in Gruppen. Die Nachbarn sind unsichtbar und pflegen keine lokalen Beziehungen. Nur das Servicepersonal wirft zu Weihnachten heimlich ein paar Nüsse in versteckte Ecken des Wohnkomplexes.
 
Strenge und Effizienz. Eagle Hills.
 
Der Kaffeefleck wird schnell weggewischt. Swiff.
 
Überraschende Formen, das muss man gestehen. Eagle Hills.
 
Selten gehen die Einwohner der Siedlung in die abgefuckte Stadt. Zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus, als würden sie dort nichts zu suchen haben, weil sie in der Siedlung über bessere Aufenthaltsräume und Einkaufszentren verfügen. Aber Preston-Fleck sah manche dann doch auf Partys, wo sie sich an die anderen Körper schmiegten und heimlich an den Menschen rochen. In den Eagle Hills hat sonst jeder seinen Raum. Um jeden breitet sich eine fünf Zentimeter breite Leuchtaura aus und es kommt so gut wie nie zum Kontakt. Preston-Fleck umarmt sich selbst, so tief, wie sie kann, in ihrem flauschigen weißen Pullover. Sie interessiert sich nicht für Politik, sie hasst niemanden, sie liebt vor sich hin und hat Sehnsucht nach unbestimmten Dingen. Hat sie jemals gedacht, dass sie so weit oben in Belgrad leben wird? Nein, aber sie findet es gut.
 
Einfach reinzoomen, wenn Ihnen etwas gefällt. Eagle Hills.


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