10 nach 8: Mateja Meded über Heimat

 
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26.03.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Ich kenne nur Zuhause-Orte
 
Heimat ist eine Illusion. Ich bin in Bayern aufgewachsen und trotzdem verstehe ich nicht, was Andreas Scheuer mit diesem neuen Ministerium will. Aber ich bemühe mich.
VON MATEJA MEDED

Soll das Heimat sein? Das Bayern, in dem unsere Autorin aufwuchs, sah anders aus. © Johannes Plenio/unsplash.com
 
Soll das Heimat sein? Das Bayern, in dem unsere Autorin aufwuchs, sah anders aus. © Johannes Plenio/unsplash.com
 

Ich erinnere mich an Bruck, wir nannten es Brucklyn. Viele Hochhäuser. Beton. Graue Farben dominierten, aber es machte nichts, denn Sega und N64 waren bunt, und wenn wir nicht vor der Glotze zockten, saßen wir zwischen den windigen Hochhäuserritzen und hörten N.W.A und die Bravo Hits und spielten Flaschendrehen, aber ohne Zunge. Im Aufzug war hin und wieder ein Exhibitionist, aber dann beschlossen wir Kiddies, nicht mehr allein Aufzug zu fahren, wir waren ghettolektuell. Wenn es heiß war, radelten wir mit den gekauft-geklauten Fahrrädern ins Freibad und schmuggelten uns rein, um Geld für Pommes rot-weiß und Cola-Wassereis zu haben. 

Wir konnten aus fünf Happy-Meal-Figuren und einem Pappkarton Universen erschaffen, in denen wir selbst erdachte Superheldinnen auf unbekannten Planeten waren. Materiell gesehen waren wir alle arm, aber das wussten wir nicht. Wir sind nicht aus Brucklyn herausgekommen. Manchmal sind einige von den Kindern über Nacht verschwunden. Abschiebung. Nur deren Mütter kamen alle drei Monate zurück, um illegal in Privathäusern zu putzen, da das Überleben – dort unten, wie sie sagten – nicht möglich war.

Später gab es keine Hochhäuser mehr. Die erste normale Wohnung, sogar ohne Schimmel. Mit vierzehn das erste Mal ein eigenes Zimmer (auch ohne Schimmel) und der erste richtige Kuss inklusive intensivem Speichelaustausch auf der Handtuchwiesenbank. Diese Burgbergfrühlingsnachmittage waren die süßesten und bürgerlichsten. Irgendwann wollte ich mehr von Deutschland, und ich tat das, was in einer Beziehung getan werden muss, um Bettflauten zu umgehen. Ich zog nach Berlin, um wieder atmen zu können.

Deutschland und ich haben eine turbulente Liebesbeziehung, wir manövrieren uns gegenseitig durch gute wie schlechte Zeiten, aber wir würden unseren Status auf Facebook nie auf "in einer Beziehung" ändern. Manchmal frage ich mich, ob Deutschland etwas überfordert ist, weil ich zu schnell zu viel verlange, zum Beispiel, dass Deutschland hinschaut, auch wenn es wehtut.

Und es muss wehtun, Wachstum und Weiterentwicklung müssen sein, sonst riecht es schnell nach braunen Mottenkugeln, sonst entstehen Spannungen, die sich in negative Energien verwandeln, und daraus wird dunkle Materie, und das wiederum verwandelt sich in so etwas wie die Afd oder das Heimatministerium.

Wobei ich mir über die Schlechtigkeit des Letzteren gar nicht so sicher bin. Ich schaue mir auf YouTube – schließlich will ich mich in Toleranz üben, da ich es von dir auch erwarte, liebes Deutschland – ein Video von Andreas Scheuer an, bezüglich des Heimatmysteriums. Andi sagt, wir brauchen bessere Verbindungen zwischen Dörfern und Städten.

Damals, als ich nicht auf dem Dorf, sondern in den Hochhaussiedlungen Brucklyn oder Neuperlach gewohnt habe, fuhr immer ein Bus alle zehn Minuten in die Innenstadt. Aber was sollte ich außerhalb Brucklyns, ich kannte niemanden, und in der Stadt konnte ich mir nichts leisten, sogar die Capri-Sonne war original und doppelt so teuer. Ich war in einer anderen Gesellschaftsklasse als die Leute, die sich in der Innenstadt aufhielten und wohnten. Die wichtigste Verbindung zwischen Dörfern, Städten, Hochhaussiedlungen, Ost- und Westdeutschland wären Dialoge. Denn die Differenzen sind nicht nur im Kopf, sondern auch im Geldbeutel.

Es wird kleinlich gedacht

Ich höre außerdem kein einziges Wort in Andis Heimatministeriumyoutuberede darüber, wie wir den Neudeutschen heimatlich begegnen wollen. Oder ignoriert Andi bewusst die Neudeutschen, um die konservativen Wählerinnen und Wähler wohlig zu schaukeln? Ich will erfahren, was in den Köpfen der CSU-Menschen vorgeht, also höre ich Andi weiter zu: "[…] dieses Widerlager der Heimat ist nicht nur die Grundfeste des Zusammenlebens, eine, so will man sagen, Leitkultur, die Leitplanken in unserer Gesellschaft, sondern, es ist mehr. Es ist natürlich auch ganz klar Strukturpolitik. Bayern hat es vorgemacht, […] das wollen wir, das bayerische Erfolgsmodell auch auf Deutschland anwenden, und dazu dient auch dieses Lebensministerium aus Innen, Bauen, Wohnen und Heimat, nämlich auch Halt zu geben."

Das Heimatministerium soll also dafür sorgen, dass sich Deutschland Bayern angleicht, ein Großbayern wird und die bayerische Leitkultur übernimmt – das Ganze hat was von Pinky und Brain, einer Trickfilmserie über zwei Labormäuse, die jeden Abend überlegen, wie sie die Weltherrschaft an sich reißen könnten. Pinky und Brain taten mir immer leid, zum einen wegen der Sisyphusarbeit und zum anderen wegen ihrem Hunger nach Macht, einem einsam machenden Ziel. Ich habe sie mir dennoch gern angeschaut, so wie ich Fische im Aquarium gerne betrachte.

Wenn jemand die Ideen der CSU braucht, um einen Halt im Leben zu haben, sollte sie oder er eine Therapie machen oder einfach mal in der Natur wandern. Gibt auch Halt. Die Fragen der Politik sollten vorausschauender sein, denn die Probleme, die auf uns zukommen, sind global. Es wird eine weltweite Massenarbeitslosigkeit geben, da viel Dienstleistungspersonal durch Roboter ersetzt wird. Die Bekämpfung des Klimawandels ist auch kein provinzielles oder nationales Problem, sondern ein globales. Massenwanderungen werden zunehmen, und grenzüberschreitende Herausforderungen bedürfen grenzüberschreitender Lösungen.

Neben solchen Themen erscheint mir die Idee des CSU-Heimatministeriums als ein Rückschritt der Politik, es wird kleinlich gedacht in einer Zeit, in der es gilt, die Bevölkerung zu größeren Gedanken zu inspirieren. Die Zukunft fordert, nationale Gedanken in globale zu transformieren. Global gedacht gibt es keine Heimat, meine Heimat bin ich. Mein Haupt-Zuhause-Ort ist Berlin.

Ich weiß nicht, wie lange unsere Liebe halten wird, denn so genau weiß man es nie, und Zuhause-Orte sind für mich austauschbar. Sie sind wie ein längerfristiges Carsharing-Modell, aber mit Herz. Ein Zuhause-Ort ist auch dort, wo ich mich traue, einzuschlafen, und wo mein Herz und Gehirn im Einklang sind und laut denken und streiten können, mit Menschen, deren Meinung ich nicht teile.

Mein Kumpel Voltaire hat mal gesagt: "Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen." 
Ich bin nicht besonders diplomatisch, deswegen will ich hin und wieder meine Exorzistinnenkutte anziehen und den Konservativen den Stock aus dem Arsch herauszaubern. Aber wenn ich ihnen meine Meinungen überstülpte, wäre ich kein bisschen besser als sie, also trinke ich lieber Tee, schreibe das hier und höre währenddessen Sun Ra, Space is the Race.

Ich will meine Mission erfüllen und dazu beitragen, harmonische Zuhause-Orte zu erschaffen, und das kann nur passieren, wenn wir uns nicht assimilieren (lat. ähnlich machen, nachahmen, vergleichen, gleichmachen, heucheln), sondern uns über unsere Unterschiede bewusst werden und sie gemeinsam feiern. Ein Fundament für etwas Neues schaffen. Was das Neue ist, wissen wir jetzt noch nicht.
 

Mateja Meded studierte an der Filmuniversität Babelsberg. Sie arbeitet als Schauspielerin. Zurzeit macht sie gerade ihren ersten Langfilm fertig, "Berlin Harlekin". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".


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